Marica Bodrožić: Mystische Fauna

Marica Bodrožić: Mystische Fauna

Worum geht’s?

Marica Bodrožić erzählt von einem längeren Aufenthalt auf La Gomera. Sie hütet ein Haus und mit dem Haus einen Hund, Inselito, über Monate hinweg. Die Begegnung und das Zusammenleben mit Inselito lässt, während sie über die Insel wandert, Erinnerungen wieder lebendig werden an frühere Begegnungen mit Tieren. Das Erzählen mäandert zwischen dem Eintauchen in das Jetzt der geliebten Insel mit ihren natürlichen Besonderheiten und dem Auftauchen auf lange und tief vergrabenen Erinnerungen aus der Kindheit sowie punktuelle Bezüge in das Lebens-Jetzt der Autorin. Gleichzeitig ist das Erzählen getragen von dem Begegnen mit einem anderen Lebewesen – dem Hund Inselito, mit dem die Autorin für Monate eine Gemeinschaft lebt. Einmal verschwindet Inselito für ein paar Tage, was für Marica Bodrožić eine Übung in Vertrauen ist und ein Türöffner für die eigene gespeicherte Geschichte zu Vertrauen.

Die in dem Buch intensiver behandelten Tier-Mensch-Begegnungen handeln von Gewaltförmigkeit – in beiden erzählten Fällen von der direkten physischen Gewalt aus Jähzorn des Großvaters gegenüber einem dem Kind vertrauten und geliebten Tier. Dass der Großvater, die vielleicht verlässlichste und dem Kind am meisten zugewandte Person aus der Kindheit der Autorin, zugleich so viel Gewalt eruptiv ausübt, ist für das Kind eine Verstörung und zugleich eine Linie, die sich von hier durch das weitere Leben und Begegnen mit anderen Menschen zieht. Immer wieder wird in dem langen Essay oder der Erzählung deutlich, wie sehr sich die Autorin auf die Nähe zu Tiere verlässt und einlässt und wie lange der Weg ist zu einem Vertrauen zu Menschen. Die Gewaltförmigkeit der eigenen Konstituierung steht dem zugewandten, sanften Erleben der Pflanzen und der Stimmung auf La Gomera gegenüber.

Marica Bodrožić lädt in ihrem Buch ein, über die eigene Verfasstheit in Gewaltsystemen, das eigene Begegnen mit Gewaltförmigkeit nachzudenken und aus diesen Erfahrungen eigene ehtische Ziele und Seinsformen zu entwickeln. Zentral ist dabei die Beschäftigung mit dem eigenen Schmerz – das Wahr-Nehmen des im eigenen Leben angesammelten Schmerzes, das Kappen der Verbindungen mit anderen Lebewesen. All dies holt Marica Bodrožić hier wieder zu sich, lässt es zusammenwachsen im Inneren und eröffnet so die Möglichkeit zu Trauer und von dort aus zu Transformation.

Was sonst noch?

Das Buch ist angefüllt mit philosophischen Betrachtungen zu Formen von Wahrnehmen und Begegnen, zum Sein im Jetzt und Hier, zu einem geteilten achtsamen Leben mit und neben Tieren. Die beiden in der Kindheit erlebten Gewaltsituationen zwischen Großvater und einem Tier sind sehr konkret und sehr direkt geschildert und haben mich beim Lesen stark verstört. Die Auseinandersetzung mit der erlebten Gewalt sehe ich als zentral an, um den eigenen Schmerz wahrnehmen und in Trauer transformieren zu können, wie das Buch eindrücklich zeigt. Und ich bin mir bis jetzt nicht sicher, ob es der konkreten bildlichen Darstellung der Brutalität einer lesenden Öffentlichkeit gegenüber gebraucht hätte, um dies für sich und für uns als Lesende als Beispiel für die eigene Auseinandersetzung mit Gewalt zu erreichen. Dafür wäre für mich in dem Erzählen an Stellen eine stärkere Reflexion der eigenen Teilhaftigkeit, des Teilhabens alleine durch Hinschauen eine Frage gewesen, zu der ich sehr gerne noch mehr in und durch den Text gelernt hätte.

Das Buch hat sich mir in seiner unendlich poetischen Sprache nicht nur im Lesen geöffnet – und mich geöffnet zu diesen feinen und differenzierten Wahrnehmungen der Autorin – auch im Reden über das Gelesene mit anderen hat das Buch für mich vielschichtige Dimensionen der Berührung ermöglicht. Ich lese es als ein höchst persönliches Buch von Marica Bodrožić und bin berührt, beschenkt und dankbar über die innere Reise, die sich mir hier gezeigt hat und lesend Türen im eigenen Wahrnehmen eröffnen kann.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

Marica Bodrožić. Mystische Fauna (2023). Berlin: Matthes & Seitz.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Matthes & Seitz