Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen

Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen

Dieses Buch ist der zweite Roman von Usama Al Shahmani nach dem beeindruckenden und berührenden ersten Roman ‚In der Fremde sprechen die Bäume arabisch‘. Wenn der erste Roman so herausragend war in Bezug auf Sprache, Inhalt, Konstruktion und Durchdachtheit, ist es in meiner Leseerfahrung manchmal so, dass ein nachfolgender Roman etwas dagegen abfallen kann. Dies ist mit dem zweiten Roman von Usama Al Shahmani in keiner Weise der Fall: Auch dieser Roman ist zutiefst berührend, kunstvoll aufgebaut und ein umfassendes Lesevergnügen. Als weiße Person habe ich wieder einmal sehr viel gelernt zu Migrationsrassismus in Westeuropa, habe sehr viel gelernt zu irakischer aktueller Geschichte, zu westeuropäischen Normalvorstellungen dazu, wie Menschen miteinander umgehen, was Höflichkeit und Zugewandtheit ist und wie anders dies auch sein und realisiert sein könnte. Alles dies ist in einer äußerst poetischen Sprache formuliert, die für mich definitiv eine Bereicherung herkömmlicher deutschsprachiger literarischer Bilder und Ausdrucksweisen eröffnet.

Die Geschichte des Romans handelt von dem jetzigen Leben von Aida, die mit ihren Eltern und ihrem Geschwister aus dem Irak in die Schweiz gekommen ist als Kind. Irgendwann gehen die Eltern, frustriert und erniedrigt, schockiert und enttäuscht von den Verhältnissen und Begegnungen, von den Möglichkeiten und Verunmöglichungen ihres Seins zurück in den Irak, den sie durch ihre Erfahrungen in der Schweiz als eine sehr viel größere religiöse Heimat verstehen lernen, als sie vorher gedacht hatten. Aida und die Schwester fliehen dann im Jugendalter mit Hilfe eines auch einmal aus dem Irak in die Schweiz gekommenen Freundes zurück in die Schweiz. Obwohl sie in der Schweiz aufgewachsen sind und dies ihr sprachlicher und kultureller Bezugsrahmen ist, vor dem sie nun vor den Eltern und ihren Lebenswünschen und -vorstellungen für die Töchter weg aus dem Irak fliehen, werden sie, nach einer langen und schwierigen Flucht, zurück in der von ihnen als Heimat empfundenen Schweiz, dort als fremd behandelt und mit aller strukturellen Gewalt des Systems in allen Einzelheiten bedacht. Dies schafft ein Leben in doppelter Verunmöglichung und Ausgrenzung.

Beim Lesen erfahren wir, dass die Schwester irgendwann stirbt in dieser Zeit der Nicht-Zeit, des Nicht-Orts. Aida kommt langsam auf dieser vielschichtigen höchst prekären Situation zum Teil in einem schweizerischen Leben an, distanziert sich innerlich von der gewaltsamen Erfahrung der Flucht vor den Eltern, der Flucht aus dem Irak und dem von den staatlichen Strukturen und den Menschen extrem erschwerten Leben in der Schweiz. Sie beginnt irgendwann während ihrer Ausbildung eine Beziehung zu einem statisiert-schweizerischen Mann in ihrem Alter und als dieser für ein paar Monate für seinen Armee-Ersatzdienst auf einen Bäuer*innenhof weit weg zieht, die Beziehung kriselt, fängt Aida an das, was als Schweigen zwischen den beiden steht, aufzuzeichnen, sich damit zu konfrontieren, mit dem Schmerz und der Trauer auf so vielen Ebenen, den Kontaktabbrüchen und dem Tod der Schwester – alles das, was bisher so unsagbar für sie zwischen ihr und ihrem Partner gestanden hat und ihr unvermittelbar, unerzählbar erschien.
Dieses sich selber und stückweit auch dem Freund in seiner Abwesenheit Erzählen des eigenen Lebens, Empfindens und Seins ist die rückwirkend erzählte Geschichte des Romans, die sehr bewegend und berührend, sehr poetisch und mitnehmend formuliert ist von Usama Al Shahmani.

Gleichzeitig hat mich das Lesen häufig in die Nähe einer Scham gebracht – zu meiner Ignoranz von Lebensverhältnissen, die zeitgleich mit mir an genau denselben Orten stattfinden und an denen vorbei ich mit einem westeuropäischen Pass und als weiße Person unbeschwert leben kann. Die Ungleichheit dieser Alltäglichkeiten wird in diesem Roman sehr lehrreich deutlich für mich. Darüber hinaus wird auch die Gewalt meiner Lebensrealität in diesem Roman für mich offensichtlich, so dass ich sogar lange überlegt habe, ob es überhaupt angemessen sein kann, dass ich zu diesem Buch aus meiner privilegierten Positionierung schreibe. Wie jede Rezension, ist dies also eine sehr eingeschränkte partielle Perspektive auf einen für mich grandiosen Roman.
Unbedingt lesens-lebenswichtig!

Für wens ist das Buch zu lesen zu empfehlen?
Ich würde das Buch wirklich allen Menschen zu lesen zu empfehlen. Aus allen Gründen, die oben bereits geschrieben stehen und die sowohl Inhalte als auch Stil umfassen. Es ist ein Buch, das ich gar nicht häufig genug verschenken kann an Menschen, die sich berühren lassen wollen. Auch für privilegierte weiße Menschen wie mich, die sich mit anderen, weniger privilegierten Menschen und ihren Versuchen in gewaltvollen Verhältnissen zu (über)leben verbinden wollen, die über sich und die Normalitäten ihrer eigenen Privilegien lernen wollen.

Was sonst noch?
Der Roman ist eine unglaublich ergiebige Quelle für die Möglichkeiten von poetischer Ausdrucksweise im Deutschen – einfach grandios, wichtig und wunderschön! Es ist schon rein stilistisch eine unglaubliche Lesefreude. Dies ist ein Roman, der definitiv meine Wahrnehmung auf Leben, Lebensmöglichkeiten, die Gewalt des europäischen Kolonialismus bis heute in und durch Migratismus, Nationalismus und Genderismus sehr erweitert – Literatur, die nicht wichtiger sein könnte!

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Usama Al Shahmani (2020): Im Fallen lernt die Feder fliegen. Zürich: Limmat Verlag

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Eintrag von Usama Al Shahmani auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Limmat Verlag