Begleitwort zur Übersetzung | Sharif Bitar über „Solidarisch füreinander sorgen“ (Dean Spade)

Es kommt nicht häufig vor, dass mich das Übersetzen eines Textes so nah im Alltag begleitet, wie es Dean Spades Solidarisch füreinander sorgen getan hat. Dass es bei diesem Buch so war, hängt nicht nur damit zusammen, wie wichtig die Botschaften des Buches sind, sondern auch damit, wie konkret, wie unmittelbar anwendbar Deans Gedanken und Vorschläge sind. Ein weiterer Grund war, dass die Arbeit an Solidarisch füreinander sorgen mit einer Reihe sprachlicher und inhaltlicher Herausforderungen einherging, die über den Text hinausgehen. In diesem Begleitwort möchte ich einige der Überlegungen, die beim Übersetzen besonders wichtig waren, näher beleuchten.

Diskriminierungssensibel aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen ist besonders aus rassismus- und genderismuskritischer Perspektive eigentlich immer herausfordernd. So hat in Nordamerika eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischer Sprache stattgefunden, die es in der deutschen Sprache zumindest in der Breite bisher nicht gab. Das zeigt sich beispielsweise am Konzept race, das in Bezug auf Menschen heute seine biologistische Konnotation größtenteils verloren hat und vor allem als sozial konstruiert verstanden wird. Das deutsche Wort »Rasse« hat diesen Wandel nicht erlebt. Bei w_orten & meer wird deswegen »Rassifizierung« verwendet, um die Konstruiertheit von »Rasse«/race-Zuschreibungen hervorzuheben.

Auch der im Englischen gängige Begriff »white supremacy« belegt, dass sich mit Rassifizierung zu einem Grad kritisch auseinandergesetzt wird, der sich in der deutschen Sprache noch nicht zeigt. Zumindest existiert kein Begriff, der in ähnlicher Prägnanz fasst, was »white supremacy« ausdrückt, nämlich weiße Vorherrschaft und Überlegenheitsvorstellungen. Ich habe mich in der Übersetzung also auch für diese etwas langwierige Variante entschieden, um Deans sehr präziser Schreibweise treu zu bleiben.

Wie »Black« und »Indigenous« werden in dieser deutschen Übersetzung die Wörter »Schwarz« und »Indigen« großgeschrieben, um sie als empowernde Selbstbezeichnungen hervorzuheben. Anders als in der englischen Ausgabe, wird in diesem Buch (und bei w_orten
& meer im Allgemeinen) aber auch Weißsein als soziales Konstrukt markiert, indem das w kursiv gesetzt wird. Und ich nutze die im nordamerikanischen Raum übliche Formulierung »… of Color« ebenso wie die Abkürzungen »PoC« und »BIPoC« (People of Color; Black, Indigenous, and People of Color), weil es bisher keine deutsche Entsprechung dieser Wendungen gibt.

Während Englisch bis auf sehr wenige Ausnahmen grammatisch genderfrei ist, durchdringen Gendervorstellungen die deutsche Sprache. Ansätze, sie genderinklusiv zu gestalten, gibt es inzwischen verschiedene. Bei w_orten & meer wird das Gendersternchen verwendet. Gesetzt wird es aber nicht zwischen der männlichen und der weiblichen Form, sondern am Wortstamm (oder was dem Wortstamm nahekommt). Auf diese Weise soll dreierlei geleistet werden: Es rückt in den Vordergrund, wie eine Person handelt, ihr Gender ist nachrangig. Es wird vermieden, dass Zweigenderung reproduziert wird, indem die männliche und die weibliche Variante nicht als Gegensätze verschriftbildlicht werden. Und die männliche Variante steht nicht als einzige ununterbrochen und an erster Stelle. Bei nur einem Wort in diesem Buch, das auch nur einmal vorkommt, stößt diese Vorgehensweise für mein Empfinden an ihre Grenzen: mayor wäre Bürg*erinnenmeist*erin. Da das konkrete politische Amt an der entsprechenden Stelle nicht wichtig ist, habe ich mich schließlich dazu entschieden, hier ein wenig vom Original abzuweichen und von Politik*erinnen zu schreiben. An Les*erinnen, die außer Stadtoberhaupt gute Vorschläge haben, wie mayor übersetzt werden kann: Schreibt mir eine Mail, ich wäre dankbar.

Zwar nicht aus diskriminierungskritischen Erwägungen, aber auch wegen sprachlicher Unterschiede haben der Verlag und ich uns
gemeinsam dafür entschieden, beim Titel und zentralen Konzept des Buches, der solidarischen Fürsorge, vom Original abzuweichen. Der
Originaltital Mutual Aid bezieht sich auf ein Konzept, das der Anarchist und Schriftsteller Peter (eigtl. Pjotr) Kropotkin um die vorletzte Jahrhundertwende entwickelte. Die gängige deutsche Übersetzung lautet »Gegenseitige Hilfe«. Doch es geht im Buch eben nicht um Gegenseiten: Es geht darum, gemeinsam zu handeln, auch über lebensweltliche Unterschiede hinweg. Die Formulierung »solidarisch füreinander sorgen« fängt genau das ein. Mehr noch: Sie rückt das Handeln in den Vordergrund und sie beinhaltet das Aufeinander-angewiesen-Sein, das im Englischen mutual anklingt.

Neben diesen sprachlichen Aspekten waren für den Prozess des Übersetzens auch inhaltliche Überlegungen prägend. Dean argumentiert
klar, nachvollziehbar und unmissverständlich. Seine Wortwahl ist präzise und behutsam. Begriffe, die häufig phrasenhaft verwendet werden – beispielsweise scale up (skalieren) und bold (hier: mutig, gewagt) –, füllt Dean zuverlässig mit Bedeutung an. Das gilt insbesondere für die Wörter leader und leadership, die ich immer wieder als besonders schwer zu übersetzen empfinde, weil ihre wörtlichen deutschen Entsprechungen Anführ*erin und Führungskraft in linken aktivistischen Kontexten deutlich negativ konnotiert sind. Dean dekonstruiert mit kritischer Perspektive dieses heikle Begriffsfeld (das ja im Englischen häufig gar nicht als heikel empfunden wird) und rahmt Führung als etwas Kollektives. So konnte ich in der Übersetzung darauf verzichten, die Begriffe umständlicher zu umschreiben, sondern vom »gemeinsamen Führen einer Gruppe« schreiben ohne dass es als Befürworten von straffen Hierarchien missverstanden werden kann.

Dass das, was Dean schreibt, so klar ist, hängt auch damit zusammen, dass er durchweg sehr konkrete Beispiele nutzt. Doch gehen mit diesen konkreten Beispielen auch Sorgen einher. Die erste Sorge ist, ob ein deutschsprachiges Publikum diese sehr konkreten Beispiele überhaupt einordnen kann. Mit Ausnahme der Einführung, die sich auf Hongkong bezieht, stammen Deans Beispiele allesamt aus den USA und aus Costa Rica. Einige, wie die Ermordung von George Floyd durch die Polizei, haben auch im deutschsprachigen Raum so viel Aufmerksamkeit erfahren, dass es nicht nötig erscheint, sie näher zu erklären. Andere konnte ich einfach kontextualisieren und so verständlicher machen, wie im Falle des Busboykotts von Montgomery, dem ich noch einen kurzen Verweis auf Rosa Parks zufügte. Deutlich schwieriger verhält es sich in den Fällen, in denen Dean sich auf spezifisch us-amerikanische Sachverhalte und Zusammenhänge bezieht, die einem deutschsprachigen Publikum wahrscheinlich eher unbekannt sind. Besonders hervorzuheben sind hier die »Profitmach*erinnen in der Gefängnisindustrie« und das Kautionssystem im us-amerikanischen Recht. In beiden Fällen habe ich mich für erklärende Fußnoten entschieden.

Die zweite Sorge ist eine, die sich nicht mit Eingriffen in den Text lösen lässt. Deans Beispiele zeichnen ein oftmals geradezu dystopisches
Bild davon, wie es in den USA und in Puerto Rico um die sozialen Systeme und das gesellschaftliche Miteinander bestellt ist. Sicherlich verspüren wir Mitgefühl und Angst, wenn wir von den desaströsen Ausmaßen der kapitalistischen Gier und Verantwortungslosigkeit lesen, davon wie Umwelt und Lebensgrundlagen vernichtet und wie Menschen kriminalisiert und marginalisiert werden. Doch sind wir auch ein wenig erleichtert, dass wir es hier ja doch ganz gut haben? Führen Deans sehr spezifischen Beispiele im schlimmsten Falle dazu, dass wir uns ausruhen auf vergleichsweise zuverlässig funktionierenden Sozialsysteme, auf Katastrophen- und Umweltschutzbestimmungen, die zumindest kurzfristig das Schlimmste zu verhindern scheinen?

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf finde ich es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es auch im deutschsprachigen Raum sehr große Missstände gibt, die als Beispiele in diesem Buch in guter Gesellschaft wären. So wird sich beispielsweise auch in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland bemüht, private Gefängnisse zu ermöglichen. Zwar stehen in allen drei Ländern verfassungsrechtliche Hindernisse einer vollständigen Privatisierung im Wege. Doch teilprivatisierte Gefängnisse sind inzwischen überall entstanden – mitsamt genau der Probleme, die die For-Profit-Gefängnisindustrie in den USA mit sich bringt. Und: In allen drei Ländern sind Gefangene gezwungen, zu Kleinstlöhnen zu arbeiten – genau wie in den USA. Was angeblich der »Resozialisierung« dienen soll, ist in der Realität vielmehr eine willkommene Gelegenheit für die Privatwirtschaft, Produktionskosten durch staatlich sanktionierte Ausbeutung zu drücken. Dasselbe gilt im Übrigen für Werkstätten, in denen Menschen mit BeHinderung weit unter Mindestlohnniveau bezahlt werden, weil ihre Arbeit als therapeutische Maßnahme gilt. Und auch im deutschsprachigen Raum findet schon vor der Hauptverhandlung offenkundig politisch motivierte Bestrafung von Menschen statt. In der jüngeren Vergangenheit zeigte sich das immer wieder dann, wenn in Bayern Klima-Aktiv*istinnen wegen Ordnungswidrigkeiten in eine bis zu zweimonatige Präventivhaft genommen werden – ohne Verhandlung.

Ich möchte mich abschließend bei Toni, Lann und Ja’n von w_orten & meer für die wertschätzende Zusammenarbeit bedanken. Ganz besonders dankbar bin ich für dein aufmerksames, kluges und ebenso wertschätzendes Lektorat, Marianne. Und mein Dank geht auch an Hannah, Lara, Paul und Wiebke aus meiner WG, die ich immer wieder am Frühstückstisch mit Fragen danach behelligen durfte, wie sie meine Wortwahl und mein Sprachgefühl einschätzen.

Sharif Bitar im März 2023