Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other
Ich mag Romane, die die Leben unterschiedlicher Menschen miteinander in eine Verbindung setzen, sehr sehr gerne. Genau das macht ‚Girl, Woman, Other‘ in einer unglaublich komplexen und spannenden Weise. Alles beginnt damit und ist gerahmt davon, dass Ammas Theaterstück an dem Abend, an dem die Erzählung des Buches einsetzt, im Nationaltheater in London Premiere haben wird. Ein großer Tag: Das Theaterstück einer Schwarzen Person, die sich als Frau versteht und eine feministische Verortung hat, wird im Nationaltheater aufgeführt werden. Die Nahpersonen von Amma werden kommen, ältere Beziehungen und jüngere Kontakte, biofamiliäre Beziehungen und vor allem selbstgewählte Familie aus verschiedenen Lebensphasen, selbst auch wieder mit anderen Menschen in Beziehung stehend. Und dieses Ausgangssetting wird dann im Verlaufe des Romans, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven dieses erweiterten sozialen Netzwerks, ein großes Universum unterschiedlicher Lebensläufe, -geschichten und -entscheidungen.
Sie alle sind davon geprägt, dass sie vom Beginn ihres Lebens an rassistische und genderistische Gewalt erleben mussten, die sich unterschiedlich in sie eingeschrieben und ihnen unterschiedliche Strategien eines Lebens und Überlebens aufgezwungen hat. Es werden Differenzen innerhalb rassistischer Gewalt, beispielsweise in Bezug auf Klassismus und zeitlicher und örtlicher Situierung der Personen, aber auch in Bezug auf sexuelle Orientierung, genauso herausgearbeitet wie unterschiedliche Genderkonzepte und die damit zusammenhängenden unterschiedlichen genderistischen Diskriminierungen.
So ist dieser Roman für mich auch in der Beziehung herausragend, als dass ein ganzes Kapitel der Erzählung einer genderfreien Person gewidmet ist (das Kapitel zu Meghan/Morgan), wo in einer einzigartig klaren und überzeugenden Weise die Absurdität von Genderordnungen vorgestellt wird. Die Aussage „It’s about becoming your true self in spite of society’s pressures to be otherwise“, fasst die strukturelle Gewalt, die die Zuordnung zu Gender in welcher Form auch immer ist, sehr gut zusammen.
Das Buch zeigt die Verbindung, die Menschen miteinander haben können, bewusst und explizit genannt oder gespürt und geahnt – Verbindungen, die bestehen, wenn Kontakte auch sehr früh zerstört wurden oder abgebrochen sind, wenn es Schmerz gibt und Unaussprechbarkeiten. Das Buch hat mich sehr berührt in sowohl den einzelnen Geschichten als auch ihrer Verbindung miteinander, die manchmal nur kurz aufleuchtet und manchmal das ganze Buch durchzieht.
Wie ist ein Leben möglich in einer Welt, die rassistisch-genderistische Gewalt so sehr normalisiert hat? Welche Lebensentscheidungen sind möglich und was kann und macht das eigene Leben aus? Der Roman gibt viele unterschiedliche und vielschichtige Antworten auf diese Frage.
Unbedingt zu lesen!
Für wens ist das Buch zu empfehlen?
Für alle Menschen, die ein sehr gut geschriebenes, spannendes Buch lesen wollen, welches über Generationen von Schwarzen Menschen in Großbritannien, den USA und auf dem afrikanischen Kontinent Verknüpfungen aufzeigt und ihre Leben miteinander erzählend verbindet. Ein großes und wichtiges Buch.
Was sonst noch?
Bernardine Evaristo hat vor diesem bereits sieben andere fiktionale Bücher geschrieben sowie Essays, Rezensionen und Theaterstücke. Bernardine Evaristo versteht sich selbst als literarischens Aktivistens und hat in dieser Selbstverortung zahlreiche Projekte gegründet. Literarisch aktivistisch zu sein ist eine unglaublich schöne Selbstcharakterisierung, finde ich, und der Roman legt ein sehr wichtiges Zeugnis dazu ab, wie literarischer Aktivismus aussehen kann.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Bernardine Evaristo (2019): Girl, Woman, Other. Grove Press, Black Cat.
Link zum Roman auf der Homepage der Autorin
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Copyright Coverfoto: Grove Press, Black Cat