Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Worum geht’s?

Es geht um Arthur, größtenteils aus der Sicht von Arthur. Arthur war etwas über zwei Jahre im Gefängnis und ist jetzt in einer einjährigen ‚Resozialisierungs‘-Maßnahme, wohnt in einer post-Knast betreuten WG. Arthur hat einen Therapeuten zugeteilt bekommen, Börd, der eher ungewöhnliche Maßnahmen vertritt. Unter anderem soll Arthur Börd Tonaufnahmen von seinem Leben machen, von sich erzählen.

Arthur war bisher eher eine wortkarge Person und tastet sich langsam an das Erzählen heran. Dies ist in einzelnen Kapitelteilen wiedergegeben und leitet nahtlos zu einer Erzählung über, die Arthurs Leben nach und nach rückblickend auffächert: Das Aufwachsen mit Mutter, Stiefvater und Bruder, Umzug nach Spanien, Weggehen des Bruders, Freund*innenschaft mit zwei Gleichaltrigen und Pläne für gemeinsames Studieren.

Dann passiert ein ‚tragisches Unglück‘ – und Arthur flieht vor sich und dem Leben nach Wien, wird kriminiell, landet im Knast. Das ist die kurze Version, die sich erst im Laufe des Buches mit Leben füllt – mit Arthurs inneren Monologen und Wahrnehmungen. Mit den Versuchen, in ein Leben zu passen, das nicht passt. Und ist dabei begleitet von zwei Personen, die auch nicht passen: Börd und Graziella – eine ehemalige Schauspielerin, die in die Hospiz-Anlage von Marianne und Georg, den (Stief)Eltern, nach Spanien gekommen ist, um zu sterben. Was aber glücklicherweise nicht so schnell geschieht.

Das Buch hat ein für mich ganz ungewöhnliches Thema: Das im Leben sein oder ins Leben finden eines jungen Menschen in den Zwanzigern – dessen oben kurz umrissene äußere Stationen doch recht wenig über das Leben, wie es sich Arthur darstellt, aussagen. Und trotzdem sind dies die Eckpunkte, die sein Leben in irgendeiner Weise bestimmen.

Alles ist in einer genauen, differenzierten und auch vorsichtigen Sprache erzählt, auch mit viel Humor. Manchmal haben sich bei mir bei Lesen der vielen absurden Situationen, in denen Arthur unterwegs ist, Filmszenen eingestellt, und ich wundere mich fast, dass dieser wunderschöne Roman noch nicht verfilmt ist.

Vielleicht auch ist alles ganz anders – vielleicht auch handelt es sich um Lebensformen und der Bruder und Arthur sind nur zwei Spielarten eines möglichen Lebens? Auch diese Lesart ist möglich – und würde für mich das abrupte und irgendwie nicht so richtig passende Ende noch mal anders auflösen. Doch auch, wenn das Ende mich nicht überzeugt, es hat meiner Lesefreude nicht geschadet.

Und sonst noch?

‚Ich an meiner Seite‘ – das ist nicht nur der Titel, sondern vielleicht auch ein mögliches Fazit des Romans: Wann begegnet mensch sich selbst und begleitet sich, lässt sich ok sein, nimmt sich seiner selbst an? Wie jonglieren Menschen ihr Leben zwischen äußeren Anforderungen, Erwartungen und einer wortlosen Nicht-Suche nach eigenem Sein? Gibt es überhaupt ein Leben hinter dem gesellschaftlichen Funktionieren-Müssen, welches jedoch mit einer Knastbiografie gar nicht so einfach mehr gelingt. Diese Fragen nimmt der Roman in einer berührenden Geschichte auf und erzählt sie grandios, fesselnd und still – so wie es die Hauptperson ist, eine eher wortkarge Person.

Ganz nebenbei werden so auch Zweifel an menschlichen normativen Beziehungssystemen, gesellschaftlichen Anforderungen und ‚Resozialisierungslogiken‘ deutlich – und die Macht, die sie auf Menschen haben und diese einengen und beschränken.

Der Roman erzählt auch in bezaubernder Weise davon, was es heißen kann, sich jenseits gesellschaftlicher Konventionen auf andere Menschen nah zu beziehen.

Eine absolute Leseempfehlung für alle Menschen, die schräge, berührende Geschichten mögen, in denen eine Gesellschaftskritik leise eingewoben ist. ‚Ich an meiner Seite‘ ist ein berührender, bewegender und tiefgehender Lesespaß.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Birgit Birnbacher (2020): Ich an meiner Seite. Wien: Zsolnay (Hanser).

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Zsolnay / Hanser