Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Direkt zu Anfang: Dieser Roman ist eine unbedingte Leseempfehlung!

Ich bin ein großer Fan von Celeste Ngs Romanen, die für mich in herausragender Weise alltägliche Umgänge mit komplexen strukturellen Diskriminierungen anhand konkreter Menschen und ihrer Geschichten behandeln. Diesem Schwerpunkt von Celeste Ngs Schreiben bleibt die Autorin auch in Unsere verschwundenen Herzen treu.

Hier wie auch in den vorangegangen Büchern ist dieses Grundsujet gekleidet in eine fast kriminalistische, auf jeden Fall sehr spannende Geschichte, die in der Zukunft angesiedelt ist.

Im Zentrum des Romans steht Bird, ein zwölfjähriges Kind, das in einer durch und durch kontrollierten, technisierten Gesellschaft der Zukunft mit dem Vater in einer kleinen Wohnung lebt. Besonders asiatisierte Menschen sind Zielscheibe des Staates, der die „amerikanische Kultur“ bewahren will und dafür umfassend rassistisch handelt. Ziel für Vater und das asiatisierte Kind ist es, unauffällig zu sein, um nicht unter die Räder des Staates zu geraten. Asiatisierte Kinder werden vom Staat häufig aus ihren Familien genommen und zur Adoption freigegeben, wie irgendwann immer deutlicher wird. Es wird mehr angedeutet als klar, dass der Vater und Bird daher noch mal besonders angehalten sind zu Unauffälligkeit, dass sie und unter ständiger staatlicher Bedrohung in dem kompletten Überwachungsstaat stehen, in dem die beiden leben. Der Vater hat seinen Job an der Uni verloren und arbeitet jetzt in trister Weise in einer Bibliothek, wo er auch die ganze Zeit aufpassen muss, nichts Unerlaubtes zu machen, also die falschen Bücher zu lesen oder Anderen zugänglich zu machen. Das für den Vater sinnentleerte Arbeiten führt dazu, dass er eher wie ein Schatten seiner selbst vegetiert.

Bird versteht nicht, wie es dazu kommen konnte – warum die Mutter weggegangen und der Vater so degradiert und zurückgezogen ist. Und so leben die beiden einen möglichst stillen, recht grauen Alltag.

Eines Tages aber findet Bird einen Brief seiner Mutter. Und von da an nimmt er langsam eine Suche nach ihr auf. Die Mutter liebte die gestalterische Kraft von Worten. Sie war Poetin und ihre Gedichte sind, wie so vieles, verboten worden, da sie Menschen empowert und berührt haben. Und noch immer finden sich Spuren eines Gedichts in widerständigen Handlungen in der Stadt: Der Ausschnitt, der dem Buch auch seinen Titel gegeben hat: Meine verschwundenen Herzen. Und auch, wenn Bird den Inhalt dieser Phrase noch nicht versteht, begibt sich Bird auf eine innere und dann äußere Reise, um die eigene Mutter und ihre Gründe fürs Weggehen zu finden – eine Reise, die ihn und seinen Vater nachhaltig bedrohen.

Diese spannende Geschichte ist äußerst mitreißend von Celeste Ng geschrieben und so stark, dass es schwer war, das Buch aus der Hand zu legen. Immer wieder leuchtet beim Lesen Unbehagen auf mit einer Gesellschaft, die auf der totalen Kontrolle der Menschen, die im Staat leben, aufbaut und diese eher als menschliche Ressourcen benutzt denn als Menschen sieht und behandelt. Und auch häufig beim Lesen bleibt das ungute Gefühl, dass nicht alles, was hier in die Zukunft verlagert ist in dem Roman, nicht auch jetzt bereits ein Stück weit stattfindet. Die dystopische Zukunftserzählung lässt immer wieder an die jetzige Situation in den USA denken.

Was sonst noch?

Dies ist ein Roman, der die Schönheit von Kunst feiert. Der die Notwendigkeit feiert, Menschen zuzuhören und ihre Geschichten zu erzählen. Mehr noch: sie selbst ihre Geschichten erzählen zu lassen. Ein Roman, der gegen jegliche Form von Konformität anschreibt, der Kunst als politischen Aktivismus versteht und der in aller Dystopie eine Liebe zeigt, die weit über Bio-Familien – Konstrukte herrschender Gesellschaftsordnungen – hinausgeht.

Dieser Roman ist ein Lese-MUSS!

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Celeste Ng (2022): Unsre verschwundenen Herzen. München: Zsolnay dtv.
Übersetzung von Brigitte Jakobeit.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: dtv