Franziska Hauser: Die Gewitterschwimmerin
Für wex zum Lesen zu empfehlen?
Für Menschen, die sich mit Dis_Kontinuitäten deutscher Geschichte anhand einer konkreten Familie beschäftigen wollen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Für alle, die es mögen, wenn Geschichten in Zeitsprüngen erzählt werden, bei denen sich die Verbindungen erst im Laufe der Zeit entschlüsseln.
Das Buch beginnt seltsam: Die Mutter der Protagonistin Tamara stirbt eher überraschend und nach Alkolholkonsum auf einer Polizeiwache. Tamara, die noch lebende Tochter besiedelt nach dem Tod der Mutter das Haus der nun beide verstorbenen Eltern. Dies macht sie, indem sie vor allem zunächst Wände schreiend und Hammer schwingend einreisst und vieles, was sie in Schränken und Schubladen findet, verbrennt. Es wird unmissverständlich deutlich, dass ein Großteil der Kindheits- und Jugenderinnerungen wohl eher nicht positiv oder angenehm waren. Henriette und Maja, die nunmehr erwachsenen Töchter mit eigenen Kindern, stehen dem Verhalten der Mutter in der Wiederaneignung des Elternhauses eher kopfschüttelnd gegenüber. Und auch für Tamara selbst sind es zu Beginn des Romans eher bruchstückhafte kurze Erinnerungen, Gefühle des Vermissens der eigenen toten Schwester Dascha und viel Wut, die erzählt werden, ohne dass dafür Spuren oder Gründe deutlich werden. Die unverbundene, bruchstückhafte, sich selbst nicht verständliche Erinnerung von Tamara wird so auch beim Lesen spürbar.
Der Roman erzählt immer weiter zurückgehend in der Zeit. Neben der Geschichte von Tamaras und Daschas Aufwachsen wird auch die der Eltern Alfred und Adele (insbesondere Alfreds) und dessen Eltern, Friedrich und Ilse, erzählt. Die Sprünge von der Kindheit und Jugend der einen zur nächsten Generation, das immer weiter Zurückgehen im Erzählen der Geschichte von Tamara bindet diese Generationen, ihre Entscheidungen, Lebenswege und Handlungen, immer enger zusammen. Sie werden so wie nebenbei und doch zentral mit der Geschichte Deutschlands vor und während des Nationalsozialismus sowie der Geschichte der DDR verbunden.
Hier trifft sich der Roman mit Machandel von Regina Scheer in mehrfacher Hinsicht – sowohl, was den zeitlichen Rahmen betrifft – die Fokussierung auf DDR-Geschichte und den Übergang nach 1989 am Beispiel einer Familie – als auch in dem wiederkehrenden Motiv des Machandelbaum-Märchens.
Über lange Strecken war ich immer mal wieder genervt, manchmal sogar nahezu angeekelt, fand den Roman zu sexualisiert, Tamaras eigenes Erleben zu brachial erzählt. Vom Ende her verstanden hat dies ein durchgehendes und zentrales Thema des Romans stilistisch ausgedrückt: Sexualisierte Gewalt und die Normalisierung, das Herunterspielen und Ignorieren von ihr. Das kontinuierliche Aufzeigen sexualisierter Gewalt und die Sexualisierung jeglicher sozialer Kontakte war mir zu viel, zu anstrengend – und erst im weiteren Lesen konnte ich für mich verstehen, wie dies alles vielleicht und komplex gerade mit der gesellschaftlichen Durchgängigkeit von sexualisierter Gewalt und ihrem Klein- und Wegreden oder gar in ihrem politischen Ideologisieren im Aufwachsen von Tamara und Dascha zusammenhängt. Ich lerne beim Lesen, wie mein Unverständnis und Genervtsein genau auf dem beruht vielleicht, was Teil des Romans ist: dem kontextlosen Interpretieren einzelner Situationen, denen ich nur lesend einen größeren, auch über das eigene Leben der Protagonistinnen hinausgehenden Rahmen zu geben vermag. Der Roman lehrt mich also mindestens Menschen und Situationen nicht leichtfertig zu bewerten – und nicht zuletzt mich selbst auch nicht. Auch das legt der Roman nahe: auch mich selbst kann ich vielleicht nur verstehen, wenn ich wage mich verdrängten und anders sich artikulierenden Nicht-Erinnerungen zu stellen.
Nicht zuletzt verknüpft der Roman so äußerst geschickt auch die Geschichte der DDR mit differenzierten Klassenfragen (was heißt es beispielsweise, wenn sozialistische Funktionärsfamilien schlecht bezahlte und ausgenutzte Haushälterinnen ‚haben‘?) – und eröffnet das Thema der sogenannten ‚freien‘ Sexualität und Sozialismus als ideologisierte sexualisierte Gewalt, mal nicht nur bezogen auf die zeitgleiche westdeutsche Nach-68er-Linke-Bewegung.
Was sonst noch?
Der Ekel und die Abscheu, die ich beim Lesen durchaus immer mal wieder hatte, das Unverständnis gegenüber dem Agieren von Tamara gehört zu dem sich lesenden Erkenntnisprozess dazu, wie vielschichtig Persönliches und Politisches miteinander verwoben sind und wie sich Leben und Fühlen über Generationen hinweg in Menschen einlagern und ausagiert werden. Der Roman zeigt auf, wie Muster durch ein Hinschauen verstanden und vielleicht aufgelöst werden können – das bedarf eines langen Atems im Leben wie im Lesen. Der Roman führt vor, dass es wichtig ist, bis zum Ende an den Erinnerungen zu bleiben und also den Roman bis zum Ende zu lesen, um den zunächst so seltsam anmutenden Beginn zu verstehen. Absolut lesenswert!
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Franziska Hauser (2018): Die Gewitterschwimmerin. Köln: Eichborn.
Link zum Roman auf der Homepage des Eichborn Verlags
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Copyright Coverfoto: Eichborn Verlag