Julie Otsuka: Solange wir schwimmen
Worum geht’s?
Alice liebt es zu schwimmen. Zusammen mit zahlreichen anderen Menschen schwimmt Alice täglich zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Bahnen im Schwimmbad weit unter der Stadt. Der erste Teil des Romans fängt das Leben und Erleben der immergleichen Menschen, die sich dort schwimmend treffen und mehr oder eher weniger aufeinander beziehen in nahezu gleichförmigen Sätzen ein, die davon erzählen, wie die unterschiedlichen Schwimmstile sind, was die Beweggründe des Schwimmens sind und was es sonst noch zu erzählen gäbe. Diese Zweckgemeinschaft nimmt jede Veränderung in ihren Reihen (oder Bahnen) sensibel wahr – und verzeichnet das langsamere Schwimmen einer Person ebenso wie das Ausbleiben einzelner für kürzere oder längere Zeit. Mitunter werden auch Nachforschungen angestellt zu den fehlenden Schwimm*erinnen in den eigenen Reihen.
Irgendwann gibt es einen zunächst kleinen Riss am Boden des Schwimmbeckens. Und während einige ihn ignorieren, andere tapfer drüber hinwegschwimmen, löst er bei anderen Angst und Entsetzen aus, was unter anderem auch dazu führt, dass Menschen fortbleiben, kurz oder länger oder für immer. Irgendwann dann schließt das Schwimmbad und der Halt dieser Routine bricht für Alice weg. Denn fast parallel mit dieser Eruption in der Gleichförmigkeit des schwimmenden Gemeinschaftslebens fängt Alice Gedächtnis an nachzulassen. Zunächst kaum merkbar, wird diese Veränderung und der Riss im eigenen Leben immer größer.
Der zweite Teil des Buches ist aus Sicht der Tochter von Alice geschrieben, die sich dem sich verändernden Sein der Mutter annähert und die Risse im Mutter-Tochter-Gefüge auslotet in der Begegnung mit einer zutiefst bekannten, immer fremder werdenden, entschwindenden Person. Diese Erzählung ist fast wie ein Kontrapunkt zum ersten Teil, der auf der Ebene sozialer Gefüge die unterschiedlichen Umgangsweisen von Individuen (den Schwimmenden) und der Struktur (der Bad- und Bauaufsicht) mit herausfordernden, vielleicht existentiellen Situationen, ausformuliert. Im zweiten Teil geht es um das Erleben der Tochter zu der eigenen Mutter, sowie ein Verstehen-Lernen der wiederum gesellschaftlichen Strukturen, in denen Demenz ‚versorgt‘ wird.
Beide Teile zusammen erschaffen ein bewegtes Bild des Lebens mit einer Person mit Demenz.
Was sonst noch?
Nicht nur ist die Erzählperspektive in Julie Otsukas neuestem Roman wieder ungemein spannend und äußerst unkonventionell gegenüber sonstigen Erzählformaten. Auch ist die Sprache wiederum so unglaublich präzise, still, dass der ungewöhnliche Rhythmus des Buches durch die Erzählung trägt und sie mehr als auf einer lesenden Ebene auch sinnlich nahezu erfahrbar macht.
Auf einer weiteren möglichen Interpretationsebene lässt sich der Riss im Beckenboden des Schwimmbads und der Umgang der Menschen und Institutionen damit auch als eine Allegorie auf den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit unvorhersehbaren potentiellen Krisen wie die Corona-Pandemie lesen. Wie verhalten sich einzelne, wie wird darüber geredet, was macht die herrschende Struktur? Und welche Auswirkungen hat dies auf das Leben von Individuen?
Doch auch ohne diese übertragene Ebene ist die Geschichte schon alleine als die Geschichte, die sie ist, äußerst berührend.
Ich empfehle das Buch Solange wir schwimmen nachdrücklich zum Lesen.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Julie Otsuka. Solange wir schwimmen (2023). Hamburg: mare.
Übersetzung von Katja Scholtz.
Link zum Roman auf der Homepage des Verlags
Copyright Coverfoto: mare