Lesley Nneka Arimah: Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt
Krass. Das hab ich bei jeder einzelnen Erzählung auf verschiedene Weisen immer wieder gedacht. Die erste, ganz zu Beginn also, hat mir tatsächlich den Atem genommen, so unvermittelt konfrontiert diese mit den Auswirkungen struktureller Gewalt. Losgelassen hat mich keine der Erzählungen, so unterschiedlich sie auch sind. Ein heftiges, berührendes, tief gehendes Buch.
Jede der elf Erzählungen in dem Band hallt beim Lesen in mir wider und nach dem Lesen lange in mir nach. Ich habe ein starkes Bedürfnis, mit anderen über das Gelesene zu sprechen, weil es mir so komplex, so grundlegend und so wichtig vorkommt, dass ich mich dazu austauschen will. Das Austauschen mit anderen hat die Wahrnehmung der Komplexität der Geschichten jeweils noch vertieft.
Will ich Gemeinsamkeiten suchen zwischen den Erzählungen, so wären die auf einer inhaltlichen Ebene darin, dass es immer um enge Beziehungen von Menschen geht. Immer sind sie aus der Perspektive einer weiblichen Person, immer gibt es in irgendeiner Form eine Mutter-Tochter-Relation, die eine Rolle spielt. Darüber hinaus sind die einzelnen Erzählungen so inhaltlich und genremäßig verschieden und verschieden erzählt, dass vielleicht am ehesten noch der Umgang mit Gewalt als Gemeinsamkeit bezeichnet werden könnte.
Die Erzählungen reichen von Berichten über historische Narrative, Ich-Erzählungen und distanzierte und doch auch Teil-Ich-Stimmen-Geschichten bis hin zu Science Fiction. Sie decken die unterschiedlichsten Formen und Effekte von Gewaltausübung und -einwirkung in das Leben von Menschen ab. Sie alle haben einen Sog – egal, wie utopisch die Geschichte ist oder weit weg von meinem eigenen Leben, sofort bin ich beim Lesen in sie hineingezogen. Dabei vermag es die Autorin unglaubliche Spannungsbögen aufzubauen, die bei mir, aufgrund der allgegenwärtigen Gewalt in allen Geschichten in ihren unterschiedlichen Formen, dazu führen, dass ich hinter jedem Satz ein neues Drama lauern sehe.
Auch das mag nicht unbeabsichtigt sein – auch als lesende Person bin ich einer Unumgänglichkeit von Gewalt in und durch die Erzählungen in einer massiven Form ausgesetzt. Zugleich handelt es sich durchweg um starke Frauenfiguren in den Erzählungen, was empowernd wirkt. Die Gewalt, die die Grundlage allen Erzählens hier ausmacht, ist strukturell: immer rassistisch und sexistisch, häufig klassistisch und schreibt sich so in das Leben von Individuen ein oder bestimmt dieses von Anfang an, unentrinnbar.
Welche Auswirkungen dies hat, wird eindrucksvoll in der titelgebenden Science Fiction Geschichte beispielsweise gezeigt, die durchaus auf die heutige Situation der Welt anwendbar ist. In der Umdrehung von Überlebensszenarien – Europa und Nordamerika sind schon lange überschwemmt und Menschen von dort geflüchtet – liegt wie in vielen der Erzählungen auch eine ironische Überspitzung herrschender Verhältnisse mit zugleich viel Humor.
Insgesamt könnten die Erzählungen auch als ‚ein Lexikon von herrschenden Gewaltarten in ihren Wirkungen auf das Leben von Menschen‘ übertitelt sein. Alle Erzählungen hinterlassen Spuren und viele Fragezeichen, Schockzustände und Nachgedanken dazu, wie die Verhältnisse sind, die erzählt werden, wiedererkennbar sind und zugleich so brilliant erzählt, dass die Wahrnehmung der allumfassenden strukturellen Gewalt unentrinnbar wird im Lesen. Durch die nahegehenden Gestalten und den immens einnehmenden Erzählstil entsteht eigentlich in jeder Geschichte eine hohe Identifikation beim Lesen mit der weiblichen Hauptfigur. Dies eröffnet weitreichendes Verständnis und Empathie und Einblicke in durch Gewalt gezeichnete Alltage unterschiedlichster Personen .
Unbedingt zum Lesen zu empfehlen! Ein literarisches Erlebnis! Unbedingt mit anderen darüber diskutieren und sich dadurch und damit immer noch so viele Ebenen mehr der Inhalte und Zusammenhänge in den Geschichten zu erschließen.
Was sonst noch?
Lesley Nneka Arimah ist für diesen Band mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden, und ich freue mich sehr, dass Culturbooks, ein kleiner Verlag, diesen Band herausgebracht hat. So toll, so herausfordernde, unbequeme, spannende Literatur lesen zu dürfen, die meine Sicht auf die Welt erweitert und vertieft.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Lesley Nneka Arimah (2019): Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt. Hamburg: Culturbooks.
Link zum Roman auf der Homepage des Verlags
Link zur Website von Lesley Nneka Arimah
Copyright Coverfoto: Culturbooks