Mithu M. Sanyal: Identitti

Mithu M. Sanyal: Identitti

Eine Professorin in postkolonialer Theorie an der Universität Düsseldorf, die sich als PoC ausgibt und einen Kultstatus besitzt, wird als weiße Person enttarnt. Das Entsetzen ist groß. Unter anderem bei einer ihrer zentralen Schülerinnen – Nivedita -, die als PoC mit einem indischen Vater potentiell ähnliche Diskriminierungserfahrungen gemacht hat wie ihre gerade ‚enttarnte‘ Professorin mit Namen Saraswati.

Nivedita, die durch Saraswati die eigene diskriminierte Situation analysieren und verstehen gelernt hat, die die Komplexität von intersektionalen Diskriminierungen von Gender und Race für sich selbst aber auch für die Gesellschaft angefangen hat, analytisch, theoretisch und persönlich zu erfassen, die in Saraswati ein Role Model gefunden hat, ein Vorbild und eine Mentorin, ist natürlich nachhaltig schockiert. Nachdem sie diese Nachricht über einen Social Media-Kanal bekommen hat, geht sie direkt zu Saraswati in die Wohnung und bleibt dort für mehr als eine Woche, um zu verstehen, ob es wirklich so ist, warum es so ist, dass Saraswati sich als PoC ausgegeben hat und was das für Niveditas eigenes Leben, für ihr Studium und das Wissen und Selbstverständnis, welches sie in diesem Studium bei Saraswati erworben hat, bedeutet.

Der Roman liest sich von Anfang an wie ein Theaterstück für mich – alles spielt bis auf winzige Ausnahmen in dieser Wohnung – es gibt Auftritte und Abgänge von verschiedenen Personen – Niveditas Kusine, die auch bei Saraswati studiert hat, weiteren anti-rassistisch aktiven Studis, dem Bruder von Saraswati, einer Nahbeziehung von Saraswati. Und in diese Grundkonstellation hinein werden große Fragen zu Identitätspolitik und struktureller Gewalt besprochen, vielleicht fast sogar durchdekliniert, insbesondere im Dialog zwischen Nivedita und Saraswati. Fragen wie: Welche Person darf welches Wissen vermitteln, leben, denken und dazu schreiben, damit Erfolg haben, dadurch berühmt werden? Wo sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einer Frau-zu-Mann-Transition und einem bewusst gewählten und initiierten und ausgenutzten PoC-Passing einer weißen Person? Bis wohin gehen Identitätskonstruktionen und von welcher Position aus kann was dekonstruiert werden?

Das alles ist in einer streckenweise höchst amüsanten und prägnant treffenden Form geschrieben. Theoretische Debatten werden hier ins Leben übertragen und in ihnen auf die Probe gestellt. Letztendlich ist das Buch so etwas wie ein Postcolonial- und Gender-Studies-Kurs in Romanform – höchst unterhaltsam und sehr differenziert. Jedes Argument und jede These wird immer wieder neu gewendet und auf die Probe gestellt. Es finden sich zahlreiche Querverweise auf postkoloniale Literatur und aktuelle gesellschaftliche Debatten. Das Buch ist grandios und ein einzigartiger Beitrag zu der Frage, wie institutionelle Diskriminierungen das Leben von Individuen prägen und was dies auf unterschiedlichen Ebenen – Ausbildung, Wahrnehmung, Karrieren, Selbstverständnissen, Biografien und vieles mehr – bedeutet.

Der Roman ist nicht nur kurzweilig, sondern auch höchst lehrreich, auf eine sehr angenehme Weise. Er macht deutlich, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen von Identitätspolitik gibt.
Ich war sehr gespannt auf das Ende – wie ein solches Theaterstück – mit allen Übertreibungen – enden kann – und bin auch von dem sehr positiv überrascht und überzeugt.
Unbedingt lesenswert! Pflichtlektüre für alle, die sich mit struktureller Diskriminierung befassen.

Was sonst noch?
Immer wieder gibt es Twitter-Nachrichten von real existierenden Personen im Buch verteilt, die unterschiedliche diskursive Einlesungen der Situation noch mal prägnant verdeutlichen. Diese sind, wie im Nachwort zu lesen ist, Originalzitate, die die entsprechenden Menschen dem Buch gewidmet haben sozusagen. Eine sehr gelungene Cross-Genre-Vielstimmigkeit-Inszenierung.

Die NSU-Morde und die Morde von Hanau sind auch Thema des Romans – nicht fiktionalisiert (wie es bei Shida Bazyars Drei Kameradinnen der Fall ist). Auch das finde ich gelungen und sinnvoll, es wird auch am Ende im Nachwort noch einmal diskutiert.

Die akademische Atmosphäre, die aufgerufen wird, die Kämpfe und die Schwierigkeiten akademischer Ausschlüsse fand ich äußerst treffend beschrieben, ich habe mich phasenweise an meine Zeit an der Universität zurückversetzt gefühlt.

Wenn ich den Roman wie ein Theaterstück lese, dann sind die für mich teilweise übertriebenen Rollen von einzelnen Personen wie von der kurz auftretenden Nahbeziehung von Saraswati, nachvollziehbar. Ansonsten sind sie mir teilweise zu wenig gefüllt und nehmen dadurch mithin eine Rolle ein, noch ein weiteres Thema oder eine weitere Facette von Identitätspolitik aufzumachen, ohne dass dies aber wirklich an diesen Punkten genügend ausdifferenziert worden ist. Dies ist eine wirklich nur kleine kritisch-nachfragende Anmerkung zu einem sehr wichtigen und äußerst originellen Roman.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Mithu M. Sanyal (2021): Identitti. München: Hanser Verlag

Link zum Roman auf der Homepage des Hanser Verlags

Link zur Website von Mithu M. Sanyal

Copyright Coverfoto: Carl Hanser Verlag