Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort

Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort

Lena, Dolmetscherin im Auschwitz-Prozess und Heiner, ehemaliger KZ-Insasse und Zeuge in diesem Prozess lernen sich vor dem Gerichtssaal kennen und beginnen eine Liebesbeziehung. Diese Beziehung wird in dem Roman über 30 Jahre begleitet in ihrem Versuchen, sich selbst und die andere Person zu verstehen, das eigene Leben, die Erinnerung, die Kontakte und das, was es mit Heiner macht, Auschwitz überlebt zu haben.

Der Roman beginnt also jenseits des konkreten Schreckens von Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs damit, wie eine Person diesen persönlich erlebten Schrecken nach dem Ende des Krieges überlebt, wie sie damit lebt und was das mit den eigenen Nahbeziehungen macht. Für Lena, 10 Jahre Jünger als Heiner, mit einer familiären Fluchtgeschichte aus Danzig in die Schweiz, stellt sich immer wieder die Frage, wie es möglich ist mit einer Person zu leben, deren Erinnerungen häufig präsenter und jetztzeitiger sind als das gemeinsame Alltagsleben. Die Unterschiede ihrer Erinnerung werden unter Anderem an ihren sehr verschiedenen Assoziationen mit einer Schaukel verdeutlicht.

Der Roman erzählt diese Beziehung und ihr Ringen mit der Vergangenheit und um eine Gegenwart berührend, mitfühlend und immer wieder neu mit sehr vielen konkreten Beispielen zu den Bildern und Erinnerungen, die Heiner besetzen und derer er sich nicht entledigen kann. Auch die Kontakte mit anderen ehemaligen Auschwitz-Inhaftierten, die in Polen wohnen, nehmen eine wichtige Rolle ein im Roman und zeigen auf, wie unterschiedlich individuelle Strategien des Umgangs mit dem erlebten Grauen über Jahre hinweg sein kann. Was macht es mit einer Beziehung, wenn die Nähe, die die ehemaligen Genossen miteinander haben, für die Beziehung zwischen Heiner und Lena unerreichbar erscheint? Was macht es mit einer Beziehung, wenn das, was das eigene Sein ausmacht, das Grauen von Auschwitz, nicht bis ins Fühlen und in den Körper der geliebten Person vermittelbar ist?

Der Roman ist in seiner Form des behutsamen, liebevollen Erzählens und Mitgehens mit Heiner und Lena ungemein berührend. Er stellt immer wieder und immer wieder neu mit unterschiedlichen Facetten und Perspektiven wichtige Fragen zum Umgang mit Erinnerungen, Traumata, Rechtssprechung und der Rolle von Recht zur Aufarbeitung des Grauens der Konzentrationslager. Schon alleine für die wichtigen Reflexionen dazu, welche Rolle Gerichte und Rechtssprechung für eine Aufarbeitung von Ungerechtigkeit haben, wie absurd Verhöre ablaufen und was Unschuldsvermutungen den Tätern gegenüber mit Aussagen machen – zu allen diesen Fragen bietet der Roman sehr viele sehr wichtige Impulse.

‚Der Schrecken verliert sich vor Ort‘ zeigt auf, wie Heiner und Lena miteinander darum ringen, ihre Liebe leben zu können trotz aller Unterschiedlichkeiten und Trennungen, die sie immer auch haben werden. Nicht zuletzt ist der Roman auch ein erschütterndes und äußerst wichtiges Dokument konkreter Gewaltverbrechen in Auschwitz. Dass die geschilderten Szenen alle historisch akkurat sind, wird nicht nur durch die konkrete Nennung von Täter-Namen plausibel.
Die Figur des Heiner Rosseck ist Hermann Reineck nachempfunden, einem Auschwitz-Überlebenden, der bis zu seinem Tod in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine wichtige Stimme für die Betroffenen des Horrors von Auschwitz gewesen ist.

Der Roman ist äußerst fesselnd, historisch und politisch sehr sehr wichtig. Er eröffnet auch wichtige Verbindungen zu heutigen politischen Situationen und dem eigenen Verhalten in diesen. So fahren Lena und Heiner einmal zu seinen Freunden nach Polen während der Zeit des Kriegsrechts, in der die Solidarność-Bewegung versucht wurde durch den Staat zu zerstören. Viele seiner Freunde sind auch hier wieder aktiv wie sie es auch im Lagerwiderstand waren. Für Lena eröffnen sich hier wichtige Fragen von Mut, Lebensentscheidungen und politischer Handlungsfähigkeit.

Für wens zu empfehlen?
Für alle. Ein so so wichtiger Roman, der auf so beeindruckende Weise thematisiert, wie ein Leben von Diskriminierten und Privilegierten zusammen möglich sein kann, was strukturelle Gewalt mit dem eigenen Leben und Überleben macht und welche Rolle Recht einnimmt, einnehmen sollte und wie ein Erinnern und Leben im Angesicht von Auschwitz verantwortungsvoll gestaltet werden könnte. Ein historisch und aktuell zeitpolitisch sehr wichtiger Roman dazu, wie Verfolgung und Diktaturen beginnen – und wie alle dagegen aufstehen können. Und – nicht zuletzt – mit einem überraschenden und auch wichtigen Ende.

Was sonst noch?
Die Auschwitz-Aussagen von Hermann Reineck finden sich auf Youtube – sehr hörenswert!
Es gibt ein Tonstück von Monika Held mit einem Interview mit Hermann Reineck, kostenpflichtig zu beziehen über die Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Gießen.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Monika Held (2012/2018): Der Schrecken verliert sich vor Ort. Köln: Bastei Lübbe AG

Link zum Roman auf der Homepage der Bastei Lübbe AG

Link zum Wikipedia-Eintrag von Monika Held

Copyright Coverfoto: Bastei Lübbe AG