Nadja Spiegelman: Was nie geschehen ist
Für wex zum Lesen zu empfehlen?
Für Menschen, die sich mit Erinnerungen in Familiengefügen beschäftigen wollen und dazu eine anregende Erzählung der Annäherung an unterschiedliche Erinnerungsweisen über Generationen hinweg lesen möchten. Für alle, die sich auf die Suche nach eigenen Erinnerungen aus Kindheit und den Geschichten von Eltern und Großeltern dazu begeben wollen. Für Personen, die Lust haben, lesend sich Fragen zu eigenen Vorstellungen und eigener Geschichte zu stellen.
Nadja Spiegelman hatte schon lange vor über die Mutter und ihr Leben zu schreiben. Oder genauer: darüber, wie das eigene Er_Leben durch das Erzählen der Mutter geprägt sei. Aus Beobachtungen der Generation über ihr in ihrer Familie fasste sie den Entschluss, den eigenen Prägungen genauer ins Auge zu sehen und zu verstehen, was eigene Erinnerungen sind und welche stärker geprägt sind durch die Worte und Augen der Mutter als durch das eigene Er_Leben. So begibt sie sich schreibend in einen langen dialogischen Prozess mit der eigenen Mutter, der gezeichnet ist von der Wiederholung von kommunikativen Mustern zwischen den beiden, Wünschen nach der richtigen Erinnerung, Ignoranz, Schweigen, Abwehr sowie eigenen positiven Selbstbildern, die erzählend immer wieder bestätigt werden. Es bedarf einiger Beharrlichkeit im Nachfragen, Dranbleiben, Aushalten von Geschichten und immer wieder neu versuchen zuzuhören, um Lücken im Erinnern zu verstehen, um Geschichten nachvollziehen zu können und um sie als Geschichten neben anderen stehen zu lassen.
Irgendwann im Laufe des Buches erweitert Nadja Spiegelman diesen Wunsch nach Erinnerungsverstehen auch auf die Mutter der Mutter. Vielleicht anfänglich mit der Hoffnung die Geschichten der eigenen Mutter über die eigene Kindheit zu verifizieren, entsteht so aber eine weitere Ebene im erzählenden Universum mit häufig ganz anderen Erinnerungen und Interpretationen. So lernen wir lesend in einer weiteren Dimension, dass die Erinnerungen der Mutter durchaus auch diametral zu denen der Großmutter sein können – wie es Nadja Spiegelman selbst auch mit ihrer Mutter ergangen ist – sehr faszinierend, genau geschildert und ehrlich.
Das Buch ist eine große Erzählung dazu, dass Erinnerungen eben genau das sind: nachträgliche Erzählungen, die Erinnerungen schaffen. Neben den zahlreichen anregenden Lebensbeispielen der eigenen Familiengeschichte dazu im Buch gibt es auch Passagen, in denen dies mit Blick auf anderen Wissensproduktionen verhandelt und zu dem eigenen Leben immer wieder neu ins Verhältnis gesetzt wird.
Zusätzlich zu dieser großen Beschäftigung mit Erinnern ist das Buch und der Prozess des Redens und Schreibens auch eine liebevolle Annäherung an die Mutter und Großmutter – an ein Dranbleiben am Kontakt trotz tief eingegrabenen Verletzungen und schwierigen Situationen. Mit beiden findet in und durch das Buch auch ein sich neu Verbinden statt, in dem den einzelnen Menschen zugleich ihr eigenes Sein gelassen wird.
Nadja Spiegelman gelingt es großartig, Andere nicht ‚auszuziehen‘, zu durchleuchten und den Eindruck zu schaffen, sie verstanden zu haben. Das Abarbeiten an der erinnernden Vereinnahmung durch die Stimme der Mutter während ihrer Kindheit und Jugend transformiert sie beeindruckend in ein Stehenlassen von unterschiedlichen Perspektiven, Narrativen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Das Buch ist somit auch die Geschichte des immer stärkeren Verstehens, dass es nicht die eine Wahrheit gibt und wie wichtig es ist, Geschichten in ihrer Komplexität zu hören, zuzulassen und als Geschichten stehen zu lassen. Dies ist äußerst beeindruckend gelungen und durchzieht das sehr elegant geschriebene Buch in einer angenehmen Weise.
Sehr lesenswert!
Was sonst noch?
Es macht richtig Spaß das Buch zu lesen, es ist flüssig und klug geschrieben, macht viele Themenstränge rund um Verbindungen und Erinnern auf und regt zum Weiterdenken an. Mit seinem schönen Schreibstil ist es auch an sich schon ein Leseerlebnis.
Sexualisierte Gewalt spielt immer wieder eine Rolle in dem Buch – manchmal explizit verhandelt in Bezug darauf, wie durch sie Selbstbilder zugerichtet und Verhaltensweisen für ein ganzes Leben eintrainiert werden (es ist erstaunlich, wie parallel eine Szene zu einer in Verena Luekens Buch erzählt wird – mit dem einen Unterschied, dass es bei Verena Lueken eine Situation mit dem Vater, bei Nadja Spiegelman eine mit dem Großvater war – und wie dieses zurichtende Erlebnis lebenslange Auswirkungen auf eigene Körperbilder, in die immer auch der gewaltvolle patriarchale Blick eingeschrieben ist und eigene Körperdisziplinierungen hat). Manchmal aber auch in Erzählungen zu Begegnungen, bei denen mir die sexualisierte Gewalt eher normalisiert und nicht reflektiert erscheint. In beidem gibt es für Personen, die durch genderistische Gewalt diskriminiert werden, auf jeden Fall viele Möglichkeiten eigenes Sein ein stückweit wiederzuerkennen und von dem Lese-Erleben heraus für sich selbst zu reflektieren.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Nadja Spiegelman (2018): Was nie geschehen ist. Berlin: Aufbau.
Link zum Roman auf der Homepage des Aufbau Verlags
Link zum Wikipedia-Eintrag von Nadja Spiegelman
Copyright Coverfoto: Aufbau Verlag