Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

‚Was sind Bilder von uns, wenn sie uns in uns selbst einschließen?‘ Der Roman versucht diese Räume auszuloten, sie zu beschreiben und versucht zugleich sie zu überschreiten – inhaltlich wie formal. Teilweise in einem Stakkato-Ton geschrieben, einer inneren oder gedachten äußeren, mal mahnenden, mal elterlichen, mal besorgten und mal genervten Befragung, erzählt die Ich-Person im Roman Erlebnisse aus dem eigenen Leben, die neben vielem anderem vor allem auch die Durchgängigkeit von rassistischen Zuschreibungen und Lebensbedingungen deutlich werden lassen – im Vergleich des Lebens in Deutschland und den USA, im eigenen Aufwachsen in der ostdeutschen Provinz, in den Kompromissen und der Direktheit im Umgang mit der eigenen, immer wieder rassistischen Großmutter, an einem Badesee im Brandenburg in der ‚Begegnung‘ mit Nazis – das alles ist in einer schnellen Abfolge in Form einer Befragung wie ein innerer Dialog geschrieben – große Stücke des Romans zumindest sind so komponiert. Am Anfang war mir dieser Stil so ungewohnt, dass es mir schwer gefallen ist, mich darin zurecht zu finden. Ich war herausgefordert. Und das mag ich wirklich gerne. Herausgefordert zu sein und sich aus gewohnten Lesebahnen weg zu bewegen. Das schafft der Roman definitiv.

Irgendwann war ich dem schnellen Rhythmus und den kontinuierlichen Widerworten und -sinnen verfallen. Diese mal sorgenden mal wütenden Dialoge wechseln im Mittelteil zu einer längeren Narration, die neben vielen anderen auch um Bilderwelten und Bilderwirklichkeiten – im eigenen Sehen und Erinnern, in der pseudo-objektiven Realität – sich drehen. Es geht um das Leben der eigenen Mutter vor dem eigenen Ich der erzählenden Ich-Person, ein Leben, welches auf einem Foto eine potentiell neue Realität bekommt für die ich-erzählende Person.

Und dann ist der Roman auch die Geschichte einer Nahbeziehung, die in Aufs und Abs sich durch das Buch mäandert, mit der Unklarheit, was Nähe und Beziehung überhaupt sein kann und soll in dem Leben von Kim und der Ich-Person. Letztendlich geht es auch darum, ob die Schwangerschaft, die die Ich-Person irgendwann hat, ein gemeinsames Projekt der fernen Nah-Kim und des Ichs, sein wird.

Wirkt das alles verwirrend? Ist es irgendwie, irgendwie aber auch nicht. Ich habe es zunehmend nach einer Phase der Herausforderung mehr und mehr genossen, das Buch zu lesen, bin immer weiter reingezogen gewesen in die sich auffächernde Geschichte_n und das vielfältig erzählte Erleben. Das Erzählen von Nahbeziehungen wirklich weit weg von Klischees fand ich sehr erleichternd und richtig neu und ungewohnt beim Lesen. Die Idee, nicht nur über visuelle und auditive Sinne Geschichten zu erzählen, sondern auch über Berührungen, ein Archiv der Berührungen zu begründen, ist eine der vielen genialen und ungewöhnlichen Vorschläge, die im Buch unterbreitet werden. Die Reflexionen zu dem immer-präsenten Rassismus im Leben der diskriminierten Ich-Person sind weitaus komplexer als vieles, was sonst zu lesen ist – die unterschiedlichen Erfahrungen in Deutschland und den USA als Schwarze Person, die Überlegungen dazu, wie die Kontinuität der strukturellen Gewalt gleichzeitig konstitutiv ist für Community-Building – dass empowernde Communities auf Schmerz basieren – eine großartige Analyse und Umsetzung, die wichtige Inspirationen zu herrschenden rassistischen Verhältnissen in allen seinen Wirkungen gibt!
Unbedingt und sehr lesenswert!

Für wens ist das Buch zum Lesen zu empfehlen?
Für alle, die in Deutschland leben und mehr verstehen möchten, was das heißt und heißen kann, in Deutschland zu leben. Die verstehen möchten, wie umfassend unumgänglich Rassismus das Leben Schwarzer Menschen in Deutschland prägt. Für alle, die Lust haben, auf einen sprachgenauen, sehr spannend immer wieder exzellent witzig und tief begriffsspielenden, genre-erneuernden Roman. Für Menschen, die sich auch stilistisch inspirieren lassen wollen und durch einen neuen Stil neue Perspektiven wahrnehmen können wollen.

Was sonst noch?
Ach ja – Angst ist eins der ‚Leitmotive‘ des Romans, nicht schwer zu vermuten nach dem Titel. Auch das wäre ein sehr spannender Eingang für eine Rezension gewesen. Formen von Angst, Wege und Umwege mit Angst, Ursachen von Angst und das eigene Leben in und trotz struktureller Angstkonstitution. Auch mit diesem Fokus: sehr lesenswert!

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Olivia Wenzel (2020): 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlage.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Link zum Wikipedia-Eintrag von Olivia Wenzel

Copyright Coverfoto: S. Fischer Verlage