Worum geht’s?
Das erste Kapitel beginnt am 7. August 2002 – an dem Tag, an dem das Manuskript ‚Das rote Buch der Abschiede‘ vom Computer verschwand – versehentlich gelöscht, nicht wiederherstellbar, auf jeden Fall war es weg. Und der Verlag wartete auf das ja eigentlich fertige Manuskript. Also schreibt die Ich-Erzählerin die Geschichte noch mal neu auf – eine vermeintlich andere Geschichte, da die Zeit sich weiterbewegt hat und es nicht zweimal die gleiche Erzählung gibt auf das eigene Leben.
In unterschiedlichen Zeitebenen wird das Leben der Ich-Erzählerin von ihr selbst erzählt – das Coming Out als Lesbe, die Beziehung mit Clownauge, die Ablehnung der Mutter ihrer sich lesbisch verstehenden Tochter und die Sprachlosigkeit zwischen den beiden dazu, das langsame Zerbröseln der Beziehung mit Clownauge, die neue Beziehung mit Havva, die Schwangerschaft und Geburt, das Leben mit Kind, das Auf und Ab in der Beziehung zu der eigenen Mutter. Und daneben die Suche nach einem eigenen Lebensinhalt, einem Studium und einem Beruf, einer politischen Ausrichtung. Die Ich-Erzählerin kommt in Wellen immer wieder ans Theater, ist in Wellen mit einer sozialistischen Gruppe verbunden, die die Fäden der Nahbeziehungen ebenso in sich trägt wie patriarchale und klassenbezogene Machtstrukturen. Das alles klingt unaufgeregt, und ist es in gewisser Weise auch. Und gleichzeitig ist dieser Roman ein wunderschön poetisch erzähltes Leben vom Coming Out in der späten Jugend bis ins höhere Alter der Protagonistin, als das Kind – das Sonntagskind, wie es im Buch heißt – auszieht.
Es liest sich wie ein Leben, welches nicht auf einer Bühne stattfindet, sondern in den Niederungen von Armut, bildungsfernem Aufwachsen, gesellschaftlicher Lesbendiskriminierung. Es liest sich also unaufgeregt und gleichzeitig so poetisch-berührend, dass es manchmal fast wie ein Langgedicht wirkt.
Das Leben mit und Gezeichnet-Sein von Nahbeziehungen wird so still und gleichzeitig klar erzählt, wie in diesem Zitat: „Genau in diesem Moment löst Havva sich von ihr ab, gleitet fort wie ein Schiff vom Kai und entschwindet zum Horizont. Und ich werde Havva mit mir herumtragen wie eine Wunde, die nicht heilt, sondern nässt, Jahr und Jahr; bis ich Havva irgendwann ablegen kann und das Fleisch zurückverwandle ins Wort.“ (177).
Es ist in vielfacher Weise ein Buch der Abschiede: Abschiede von Selbstbildern, von Beziehungen, von Eltern, vom eigenen Kind. Abschiede, die das Leben ausmachen, was unverdrossen weitergeht und durch diese Abschiede gezeichnet und nicht beendet ist.
Was sonst noch?
Ein leichtes Buch und ein traurig-poetisches Buch zugleich. Ein Buch ohne Lösungen und einfache Antworten. Ein Buch zu den Auf und Abs des eigenen Fühlens und des sich Beziehens auf Andere. Ein stilles Buch, dem genau zugehört werden kann, um die unglaublich schönen poetischen Nuancen beim Lesen einatmen zu können.
Große Leseempfehlung!
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Pirkko Saisio: Das rote Buch der Abschiede (2023). München: Klett-Cotta.
Übersetzung aus dem Finnischen von Elina Kritzokat.
Link zum Roman auf der Homepage des Verlags
Copyright Coverfoto: Klett-Cotta