Rešoketšwe Manenzhe: Wir Zerrissenen

Rešoketšwe Manenzhe: Wir Zerrissenen

Worum geht’s?

Ein Ehepaar, Alisa und Abram, führt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ein gut situiertes Leben in Südafrika, in der Nähe von Kapstadt. Das Paar hat zwei Töchter, Dido und Emilia, die ungefähr zwischen 10 und 12 Jahren alt sein dürften. Direkt zu Beginn des Romans erfahren wir, dass an dem Tag, dem 29. März 1927, ein Gesetz erlassen wird, welches die intime Beziehung zwischen Europäer*innen und südafrikanischen Indigenen regelt: Solche Kontakte werden fortan verboten. Abram, der dies in der Stadt beim Kauf der Zeitung zum ersten Mal liest, lässt sich davon nicht leicht aus seinem Optimismus und seiner Gemütsruhe weg bewegen – zu viel hat er mit der großen Anlage, die Weintrauben kultiviert und zu Wein verarbeitet, im Laufe der Zeit erreicht. Seine Frau Alisa hingegen, die eher als ängstlich und pessimistisch dargestellt wird in dem Roman, ist höchst besorgt um ihr Leben und das ihrer beider Kinder. Denn Abram ist weiß, Alisa ist Schwarz, und sie fallen unter genau das, was das Gesetz regeln und verbieten will, auch wenn es zunächst noch so klingt, als wären bestehende und eingetragene Ehen davon ausgenommen.

Alisa ist so besorgt, dass ihnen die Kinder entzogen werden und sie so mehrfach heimatlos und nicht-zugehörig würden, dass sie keinen anderen Weg sieht nach einer Weile, als sich und die Kinder durch einen Brand umzubringen. Während das zunächst am Horizont sich anbahnende gesetzliche Unheil in seiner immer stärkeren Realität den ersten Teil des Romans ausmacht, erzählt der zweite Teil die Geschichte bis zum Legen des Brandes und seinen tödlichen Auswirkungen.

Dido, ein Kind mit einem großen Interesse an mündlich Erzähltem, überlebt den Brand und begibt sich nach einer Zeit des Trauerns und Verarbeitens mit ihrem Vater, der die drohende Situation von Trennung und Bestrafung nicht mehr ignorieren kann, auf eine Flucht vor dem Repressionssystem des Staates. Dies wird neben der Rolle seherischer Fähigkeiten von Gloria, der Kinderfrau, und ihrer Weise die Energien der Toten zu besänftigen im dritten Teil des Romans erzählt. Hier wird zugleich auch deutlich, dass es nebeneinander im Südafrika der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr verschiedene Weisen gab, um Menschen zu trauern und mit den dadurch freigesetzten Energien umzugehen.

Danach findet erzählerisch eine etwas abrupte Wendung statt, wenn im vierten Teil Abram die Reste des Tagebuchs von Alisa liest – den Teilen, die nicht von den Flammen zerstört worden sind, und die mit der Reise von Alisa von England nach Südafrika beginnen. Alisa ist als Schwarze Person in England bei einem weißen Ehepaar aufgewachsen, welches Alisa als eigenes Kind angenommen hat. Und trotz der Liebe dieser Eltern erlebt Alisa einen Rassismus, der es ihr verunmöglicht, sich zugehörig zu fühlen im England dieser Zeit. Ihre letzte Hoffnung für ein Gefühl der Zugehörigkeit ist nach zahlreichen Reisen, auch in die Karibik, wo ihre Vorfahr*innen als versklavte Menschen hin verfrachtet worden waren, Afrika. Es wird deutlich in diesem Teil, aus welchen Beweggründen Alisa keinen weiteren Lebensweg für ihre Kinder sieht, denen offenbar genauso wenig wie ihr die Möglichkeit einer geografischen, positiven Zugehörigkeit möglich ist. Dieser vierte Teil also kontextualisiert den von Alisa gelegten, für sie und Emilia tödlichen Brand noch mal neu und komplexer im Gefüge von Kolonialismus und der Verschleppung von versklavten Menschen in andere Gebiete.

Im fünften Teil wird ansatzweise die Geschichte eines frühen engen Kontaktes von Abram mit seinem Freund Johannes erzählt, bei dem sie auf der Flucht Unterschlupf finden. Auch hier entfaltet sich noch einmal eine neue Ebene einer menschlichen Nahbeziehung und einer Verwerfung. Gleichzeitig damit steigt die Spannung, ob die Flucht von Abram und Dido gelingt.

Was sonst noch?

Der Roman von Rešoketšwe Manenzhe verhandelt gekonnt und ineinander übergehend die verschiedensten Dimensionen struktureller Diskriminierungen: allen voran Rassismus, aber auch Sexismus, Klassismus und Heterosexualität spielen eine Rolle und werden über verschiedene Figuren und Erzählstränge zu einem diskriminierenden Teppich der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts in Südafrika verwoben. Zugleich wird an einzelnen Figuren deutlich, wie tiefgreifend strukturelle Diskriminierungen und diskriminierende Gesetzgebungen das Leben von Einzelnen auch über Generationen hinweg bestimmen, wie stark Kolonialismus zur Verdrängung von Indigenen Kulturen zum Beispiel des Trauerns und des mündlichen Geschichten-Erzählens, geführt hat.

Eng an historischen Fakten geschrieben wird deutlich, wie der Übergang von Kolonialismus zu Apartheid in Südafrika vonstatten ging und welchen Einfluss Gesetzgebungen dafür hatten, die zunächst als einzelne in ihrer großen sozialen Dimension nicht deutlich werden. Neben diesen wichtigen Ebenen des Romans ist auch die Rolle von mündlichem Geschichten-Erzählen in diesem besonders wichtig und ein strukturierendes Moment des Romans, welches deutlich macht, wie viele Geschichten und Geschichte ungehört bleiben, werden sie nicht erzählt. Der Roman ruft zum Beispiel die in Südafrika beheimatete Gesellschaft der Balobedu in Erinnerung, die, so Rešoketšwe Manenzhe in ihrem informativen Nachwort, auch im heutigen Südafrika den meisten Menschen nahezu unbekannt ist.

Der Roman ist eine unbedingte Leseempfehlung. Er hat einen spannungsgeladenen Inhalt, der es schwierig macht, das Buch aus der Hand zu legen. Er ist sehr flüssig geschrieben und entfaltet im Laufe der Geschichte eine große Komplexität zu den Fragen Identität, Diskriminierung, Kolonialismus, Nahbeziehen.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

Rešoketšwe Manenzhe: Wir Zerrissenen (2023). München: Penguin.
Übersetzung von Dorothee Merkel.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Penguin