Ruth Klüger: weiter leben

Ruth Klüger: weiter leben

Worum geht’s?

Ruth Klügers Kindheits- und Jugenderinnerungen sind ein grandioses, genaues, vielschichtiges und differenziertes Buch zu der eigenen Kindheit und Jugend und auch Phasen danach. Es ist nicht nur unglaublich gut geschrieben: klar, präzise, wortgewandt und wortgenau, mitunter auch witzig, immer auch wütend und traurig. Es ist eine einmalige Ode an die Erinnerung und die Form, wie Menschen ihre Erinnerungen entinnern, verändern und neu erfinden. Es ist ein sich selbst und den Lesenden gegenüber zutiefst ehrliches Buch, schonungslos, verstehend, verzweifelnd, verbitternd, verbindend. Es ist feministisch und alles andere als eine beschönigende, sich selbst feiernde Selbstdarstellung der Autorin, die diese möglichst perfekt, ideal und besonders erscheinen lassen will, ganz im Gegenteil: das Buch ist komplett uneitel. Das Buch ist, auch wenn es eine Autobiografie ist, alles andere als selbstverliebt, sich selbst schmeichelnd, schön redend oder idealisierend. Es ist aus der Überzeugung geschrieben, dass es Geschichten braucht, um zu verstehen, um mitzufühlen, um über sich selbst und die Welt nachzudenken. Weiter leben ist mir immer wieder neu eine vielschichtige inhaltliche, stilistische, persönliche, historische, literarische und feministische Offenbarung. Verhandelt werden anhand der eigenen Geschichte Erniedrigung und Diskriminierung in Wien als jüdisches Kind, Deportation mit der Mutter nach Theresienstadt, Auschwitz/Birkenau und Christianstadt (Groß-Rosen), die Flucht mit Mutter und Schwester und eine kurze Zeit in Bayern zu Kriegsende sowie ein kurzer Abriss des Seins in New York sowie im Epilog eine Bezugnahme auf die Übernahme einer Professur in Göttingen, aus deren Kontext auch dieses Buch entstand. Gewidmet ist es den Freund*innen in Göttingen.

Ruth Klüger verwehrt sich dagegen als Überlebende ‚auserwählt‘ gewesen zu sein – sie hatte in ihren eigenen Worten einfach Glück, alle Lager überlebt zu haben. Direkt zu Beginn des Buches macht sie deutlich, dass Antisemitismus kein jüdisches Problem sei, sondern ein Problem der Antisemit*innen. Nur die Folgen des Antisemitismus seien ein Problem für als nach den Definitionen der Nazis jüdisch kategorisierte Menschen. Das Thema des Umgangs mit Antisemitismus in Deutschland während und nach dem 2. Weltkrieg durchzieht das Buch und die meisten der in dem Buch erzählten Situationen und Gespräche sind heute noch genauso vorstellbar in ihrer Vermeidung des Erinnerns, der Sprachlosigkeit und der Ignoranz wie zu der Zeit, als Ruth Klüger die Erinnerungen aufgeschrieben hat – was erschreckend ist und das Buch noch immer erschreckend aktuell macht.

Einige der Themen, die im Buch erörtert werden, sind: Beschönigungen von Erinnerungen, patriarchale Religionen und Gedichte als Alternativen dazu, Ambivalenzen von Moral, was Krisen mit Solidarität machen, Mutterbild und Mutterbeziehung, Auschwitz als Symbol und als Ort, die KZ-Erinnerungskultur als Beschwörung und dann Beschwichtigung von gesellschaftlichem Unbehagen, das gesellschaftliche Vergleichsverbot zur Shoah und seine Wirkung, das Nicht-Hören-Wollen der deutschen Öffentlichkeit von KZ-Erfahrungen mit einem Schwanken zwischen Ehrfurcht und Ekel, Autoritätsgebaren in Auschwitz als Methode des Aberkennens der menschlichen Existenz; die Relation zwischen der Achtung gegenüber Verfolgten heute im Verhältnis zu der Ignoranz gegenüber beiseite Geschobenen, die Notwendigkeit von Gedichten zum Überleben und als Kritik am Leben, zum Mitfühlen und Mitdenken als Deutungen des Geschehens, Frauen und Literatur, das Gute und Weiblichkeit, Freiheit und wo sie zu finden und wo sie nicht ist, Hoffnung – Verzweiflung – Angst, ob einfaches weiter leben überhaupt ein Happy End sein kann – und vieles mehr.

Das Buch referiert dabei Literatur, Gedichte, Philosophie, Alltagsgespräche und Erfahrungen. Es ist ein Schatz zum eigenen Nachdenken wie zum Diskutieren mit anderen. Ein einmaliges, ein unentbehrliches, unfassbar wichtiges Buch.

Was sonst noch?

Dies ist eins der ganz wenigen Bücher, welches ich (bisher) 3mal gelesen habe – und jedes Mal war es so, als hätte ich es zum ersten Mal gelesen – so sehr berührt und inspiriert mich dieses Buch. Auch ist es für mich eines der klügsten, komplexesten und gleichzeitig selbstkritischen Darstellungen eines Teils des eigenen Lebens, den ich je gelesen habe. Das Buch gehört ganz definitiv zu meinen (Über)Lebensbüchern.

Ruth Klüger schafft es, sowohl den eigenen Erinnerungen treu zu bleiben und sie in diesem Buch zu schildern als auch sehr viele Bögen zur Jetzt-Zeit zu spannen und dem Umgang in Deutschland mit dem antisemitischen Genozid. Auch wenn das Buch nun schon 35 Jahre alt ist, hat es in dieser Hinsicht nichts von seiner Aktualität eingebüßt – was an sich schon eine starke und traurige Aussage zu der Unverbrüchlichkeit von Antisemitismus wieder in Deutschland und dem nur vordergründig reflektierten Aufarbeiten des antisemitischen Genozids ist.

In der englischen Ausgabe, die nach der deutschen erschienen ist und die Ruth Klüger ebenfalls selbst geschrieben hat – eine modifizierte Übertragung aus dem deutschen Original – findet sich ein weiterer, zehn Jahre später geschriebener Epilog. Ruth Klügers Mutter ist mittlerweile tot, und dieser zweite Epilog liest sich versöhnlicher, verzeihender als der erste und ergänzt das deutsche Buch um interessante biografische Nuancen aus vor allem der Beziehung von Ruth Klüger zu ihrer Mutter.

Dieses Buch ist mehr als eine Leseempfehlung. Wenn es nur ein Buch gibt, was du je lesen willst oder noch lesen kannst, nimm dieses!

[Rezension von Lann Hornscheidt]

Ruth Klüger. weiter leben. Eine Jugend (1992). Göttingen: Wallstein.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Wallstein