Svenja Leiber: Staub

Svenja Leiber: Staub

Für wex zum Lesen zu empfehlen?
Für Personen, die sich mit den Spuren der eigenen Vergangenheit im Jetzt beschäftigen wollen oder Lust haben dazu etwas zu lesen. Für Menschen, die es genießen, wenn Gender uneindeutige Charaktere vorkommen, ohne dass es sich um eine Coming-Out-Geschichte dieser Personen handelt – sondern stattdessen um die Verantwortung gesellschaftlicher Zustände für das schwierige Leben von Menschen, die diskriminiert werden.
 Der Roman verknüpft gesellschaftliche diskriminierende Zustände und persönliches Leben und Erleben einer umfassend privilegierten Person in einer spannenden und nachdenklich machenden Weise. Auf jeden Fall lesenswert!

Was noch?
Der Roman ist von einer weißen Person mit deutschem Pass geschrieben, die große Teile ihres Lebens in Europa verbracht hat, wie der Klappentext nahelegt. Die Darstellungen über Amman und Saudi-Arabien beruhen sicherlich auch auf eigenen weiß-westlichen Erfahrungen vor Ort. Ich war mir aber nicht immer ganz sicher, ob hier nicht auch zuschreibende Stereotype aus weißer Perspektive zu Lebens- und Alltagsformen in Saudi-Arabien und in Amman mit aufgerufen werden. Diese sind in keiner Weise plakativ – es hat eher sowas wie ein Nachdenken bei mir hinterlassen, ob mein nahtloses Verstehen von Situationen an mir unbekannten Orten auch vielleicht meine weißen Vorstellungen re_produziert und nicht so sehr bricht.

Ich glaube ich habe ein Faible für Romane oder Geschichten, in denen Menschen sich in einer Lebenskrise befinden (mit meinem eigenen zunehmendem Alter darf diese Lebenskrise auch immer weiter nach hinten im Leben verlagert sein). Diese Vorliebe für eine erzählerische Grundkonstellation finde ich auch in Svenja Leibers Roman ‚Staub‘ wieder: Die zentrale Person, Jonas Blaum, um die 30 oder 40 Jahre alt, geht nach einer Trennung aus einer Paarbeziehung einen Freund besuchen in Amman – und besucht dabei zugleich Erinnerungen an die eigene Kindheitsgeschichte, als er mit zwei Geschwistern und Eltern eine Zeit lang in Saudi-Arabien wohnte – dem Beruf des Vaters (Arzt) und seinen politischen Idealen geschuldet. Auch Jonas Blaum ist heute Arzt, ist tablettenabhängig und braucht von seinem Leben-Nicht-Leben eine Pause. Aus diesem Grund also reist Jonas nach Amman. 
Der Roman wechselt im Erzählen zwischen 2004 und 2014/2015 und beide Zeitebenen sind überzeugend und spannungsgeladen ineinander verwoben. Es geht um das Gefühl von Schuld und Verlassen-Sein, um Vermissen und dem Mangel an aufrichtigem, anwesendem Kommunizieren, an die Macht von sozialen Kategorisierungen und ihre Unhintergehbarkeit – 2004 wie 2014.

Wie ich schon geschrieben habe – ich mag Romane, die in den Tiefen des eigenen Seins Vergangenheiten und Gegenwarten fast mäandernd zusammenbringen und mir helfen zu verstehen, wie früh Muster und Glaubenssätze entstehen und wie stark sie miteinander verbunden sind häufig. Ich mag das – und gleichzeitig habe ich auch sowas wie eine abwehrende Faszination damit, wenn Menschen tage-, wochen- oder gar monatelang sich mit eigenen Befindlichkeiten beschäftigen können, zeit- und ortsungebunden reisen können (ein westliches Privileg) und in Tage hineinleben, die offenbar am allerwenigsten von Finanzierungssorgen geprägt sind. Vielleicht kenne ich genau das nur aus Romanen und weniger aus ‚dem Leben‘. Vielleicht eröffnet mir ein Roman genau einen solchen fiktiv-denkenden Freiraum jenseits konkreter alltäglicher Lebenszwänge.

Was mir besonders gefällt an diesem Roman, ist eine zweite, sich durchziehende Ebene einer Strukturkritik in meinem Lesen: Zweigendernormen werden hier ebenso in gewisser Weise punktuell problematisiert wie Paarbeziehungsnormen, westliche Politikideale und ein ungebrochener Glaube an westliche Schulmedizin. Nicht die Person, die sich einer Zweigenderungszuordnung verweigert, wird dabei problematisiert, sondern eine Gesellschaft und Anrufung, die immer wieder Zweigenderung als einzig mögliche Form herstellt. Das Verschwinden des einen Geschwisters in den Tod interpretiert Jonas Blaum dann auch als ein Davonmachen vor den behaupteten gesellschaftlichen Kategorien. Wie umfassend diese Kategorien-Kritik ist – wie stark sie neben Genderismus auch Nationalismus und Rassismus sowie Alter in einer höchst spannenden Form betrifft, darum kreist dieser Roman in einer spannend erzählten Geschichte.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

 

Svenja Leiber (2018): Staub. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags Suhrkamp

Link zum Wikipedia-Eintrag von Svenja Leiber

Copyright Coverfoto: Suhrkamp