Über Gleichheit und Verschiedenheit: Inspirationen durch Audre Lorde

Am heutigen 18. Februar 2025 wäre Audre Lordes 91. Geburtstag gewesen. Zu diesem Anlass möchten wir euch Werk und Wirken Audre Lordes durch die persönliche Erfahrung von Marion Kraft näher bringen. Im folgenden könnt ihr ein Kapitel des Buches Empowerment und Widerstand. Inspirierende Begegnungen mit Audre Lorde lesen.

1974, während meines Studiums und meiner Lehrtätigkeit an der Ohio State University machte mich ein afroamerikanischer Kollege mit den Werken Schwarzer Frauen* vertraut, mit Büchern, die noch selten auf den Leselisten US-amerikanischer Literaturstud*entinnen zu finden waren und in deutschen Lehrplänen noch völlig fehlten. Unter diesen Büchern, in denen ich so viele Aspekte des Lebens Schwarzer Frauen fand, war Audre Lordes Gedichtband From a Land Where Other People Live (Aus einem Land, in dem andere Menschen leben).

Nach Ablauf meines Lehrauftrags verließ ich das Land meines afroamerikanischen Vaters und kehrte nach Deutschland zurück. In den politisch turbulenten Zeiten der späten 1970er Jahre engagierte ich mich in verschiedenen linken und feministischen Organisationen, in denen eine selbsternannte Avantgarde behauptete, sich für positive Veränderungen einzusetzen. Allzu oft musste ich jedoch feststellen, dass die Befreiungskämpfe kolonialisierter Länder häufig instrumentalisiert wurden, dass Rassismus in Deutschland nicht thematisiert wurde und Feminismus nur weiße privilegierte Frauen* zu betreffen schien. Ich begann mich intensiv mit der Literatur Schwarzer Frauen* zu befassen, und über viele Jahre hinweg begleiteten mich dabei einige Zeilen aus Audres Gedicht For Each of You (Für jede von euch):

Sei wer du bist und sein wirst
lerne
den ungestümen Schwarzen Engel zu achten,
der dich
an einem Tag emporhebt und am nächsten fallenlässt
den Ort schützt an dem deine Kraft entspringt
fließend wie heißes Blut
aus derselben Quelle
wie dein Schmerz

In den frühen 1980er Jahren unterrichtete ich an einem Oberstufen-Kolleg, wo es mir möglich war, Lehrpläne für Englisch- und Literaturkurse zu entwerfen. Ich war entschlossen, die Stimmen Schwarzer Frauen* in der Literatur in Deutschland hörbar zu machen. Zwar waren deren große literarische Errungenschaften zu einigen wenigen Verlagen und Wissenschaft*lerinnen in Deutschland vorgedrungen, blieben allgemein aber marginalisiert und vernachlässigt, selbst inner- halb der weißen feministischen* Bewegung. Ich selbst wollte nicht einen weiteren post-strukturalistischen oder psychoanalytischen Ansatz zu diesem Diskurs beitragen, in dem, wenn überhaupt beachtet, die Schwarze Protagonistin in der Regel nur als Opfer gesehen wurde. Mich interessierten die Macht der Sprache, die Re_visionen der Geschichte und die Quellen der Stärke in diesen Werken. Es war bewegend und aufregend für mich, im Rahmen meiner Forschungsarbeiten mehr über Audre Lorde und ihr Werk zu erfahren.

Am meisten faszinierte mich die Vielfalt an Themen in Audres Werken: Fragen von Identität und Differenz; Afrika als das Zentrum eines vielfältigen kulturellen Erbes; die Karibik als Drehscheibe der afroamerikanischen Kultur und Tradition: der Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung; die Betonung von Emotion und Erotik als Quelle der Macht; die Liebe und heilende Kraft von Frauen*. Ebenso war ich fasziniert von ihren Bildern afrikanischer Frauen in der Diaspora, Bilder von Unterdrückung aber auch von Widerstand und Stärke. Diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass im Fokus meiner Dissertation über die Literatur Schwarzer Frauen das Kontinuum ihres afrikanischen Erbes stand.

Zu dieser Zeit wusste ich nicht, das Audre Lorde vorübergehend in Berlin weilte, wo sie den Zusammenschluss junger Schwarzer Frauen* initiiert und diese zur Veröffentlichung des Buches Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte inspiriert hatte. Kurze Zeit darauf traf ich zwei der Herausgeberinnen*, die Autorin May Ayim und Dagmar Schultz, Verlegerin einiger von Audres Werken in Deutschland, auf einer Frauenkonferenz in Hamburg, und sie luden mich nach Berlin ein, um dort ein Interview mit Audre Lorde zu führen. Ich sagte sofort zu, und als ich Audre traf, war ich nahezu überwältigt von ihrer Herzlichkeit, ihrer Offenheit und ihren Ansichten, die mich auch als Lehrende sehr überzeugten. Als ich sie darauf ansprach, dass sie Unterrichten einmal als »Überlebenstechnik« bezeichnet hatte, sagte sie: »Ich denke, dass wir die Dinge am besten unterrichten, die wir für unser eigenes Überleben lernen müssen. Auf diese Dinge zurückzugreifen und sie dann weiter zu geben, wird zu einem verbundenen Prozess. Ich glaube, dass wir uns dadurch weiterentwickeln, dass wir nicht von dem Inhalt eines Buches lernen, sondern von der Interaktion, die zwischen dem stattfindet, was in dem Buch steht und was in uns selbst ist.«

Diese Art der Interaktion hatte auch mich als Schwarze Lehrende überwiegend weißer Studentinnen in Deutschland lebendig gehalten, in meinem Bestreben, durch Sprache und Literatur Gleichheit, Differenz und Diversität in verschiedenen kulturellen Kontexten zu vermitteln. Diese Bedeutung der Interaktion wurde auch in Audres Lesungen deutlich. Da war nicht nur die Stimme der Dichterin, die die Herzenund das Bewusstsein ansprach, die Schwarze Sängerin, »mit zwei Trommeln auf dem Kopf«, sondern auch die Lehrerin*, die nicht dozierte, sondern kommunizierte und ihr Publikum dazu anregte, Lösungen zu den Fragen des eigenen Lebens selbst zu finden und die Wahrnehmung von sich selbst und anderen zu überprüfen. Die Lesungen, die ich in der Folgezeit in Deutschland für sie organisierte, vermittelten diesen Geist einer diversen Zuhör*erinnenschaft, von der sie einmal sagte, »[…] aus diesem Selbst heraus schreibe ich für alle, die meine Worte nutzen können.«

Nutzen aus Audres Worten zu ziehen bedeutete Interaktion und Aktion. Im Sommer 1990 traf ich mich mit Audre und unseren gemeinsamen Freundinnen* Gloria I. Joseph, Andrée Nicola McLaughlin und Helga Emde auf St. Croix, um erste organisatorische Schritte für das Fifth Cross-Cultural Black Women’s Studies Summer Institute in Deutschland zu treffen. Dieses fand 1991 drei Wochen lang in Frankfurt am Main, Bielefeld und Berlin statt.

Es nahmen über hundert Schwarze Frauen* und Frauen* of Color von allen fünf Kontinenten teil sowie einige weiße Frauen*, hauptsächlich von den Veranstaltungsorten. Die Veranstaltung erhielt beachtliche Unterstützung von verschiedenen Organisationen und Institutionen und große Aufmerksamkeit in der lokalen und überregionalen Presse. Dieses Ereignis war eine wichtige Erfahrung für alle Teilnehmerinnen, insbesondere aber für die Schwarzen deutschen Frauen*, die gerade erst ein paar Jahre zuvor begonnen hatten, sich zu organisieren. Zunächst war mir die Herausforderung diese Veranstaltung zu organisieren und zu leiten zu groß erschienen, aber in Kooperation mit Helga Emde (ISD – Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland) und mit Unterstützung einiger Frauen von ADEFRA (Afro-deutsche Frauen) – Initiative Schwarze Frauen in Deutschland e. V., unter ihnen die Mitbegründerinnen* Ria Cheatom, Jasmin Eding und Judy Gummich, wurde es möglich, Schwarzen Frauen* aus aller Welt eine Stimme und eine Plattform in Deutschland zu geben. Die Konferenz fand zwei Jahre nach dem Fall der Mauer statt, der eine größere Freiheit für einen Teil der Deutschen bedeutete, aber auch eine neue Welle rassistischer Gewalt in Deutschland mit sich brachte. Beim Rückblick auf dieses Ereignis fällt mir der Titel eines von Audres Gedichten ein: »Who Said It Was Simple?« (Welche Person sagte, es würde einfach sein?)

Es war nicht einfach. Während der Veranstaltung war Audre in Berlin, aber sie war zu schwach, um teilzunehmen. Ich besuchte sie anschließend und wir sprachen über den Erfolg der Konferenz, aber auch über die verschiedenen Differenzen zwischen den Teilnehmerinnen* – Differenzen, die auf unterschiedlichen Herkünften basierten, aber auch auf Alter, sexueller Identität, Sprache und Nationalität. Wie immer lag ihr Fokus auf ihren positiven Visionen von der Zukunft, und sie sagte, dass jenseits aller Widersprüche all die Frauen*, die dieses Ereignis ermöglicht hatten, offensichtlich die Notwendigkeit der Zusammenarbeit erkannt hätten, auf Veränderungen hinzuwirken für eine Zukunft, die wir teilen können. Im Rückblick erinnert mich das an eine ihrer Lesungen in Berlin einige Jahre zuvor, bei der sie – an weiße Frauen* und Schwarze
Feministinnen* gerichtet – sagte: »Ihr müsst meine Verschiedenheit akzeptieren – und ich muss eure Verschiedenheit akzeptieren. Nur so können wir zusammenarbeiten«.

Verschiedenheiten unter Menschen, unter Frauen* sind vielfältig. Eine davon ist Sprache und das unterschiedliche kulturelle Erbe, das über sie transportiert wird. Bereits 1988 hatte Audre mich gefragt, ob ich eine Auswahl von ihren Gedichten ins Deutsche übersetzen wolle. Ein erneutes Mal war ich zögerlich, nicht weil ich das nicht gerne übernehmen wollte, sondern weil ich mich fragte, wie ich den Gesang der machtvollen Stimme einer Schwarzen Frau*, die sich als kriegerische Dichterin bezeichnete, in eine Sprache übertragen könnte, die oft rau, oder im besten Fall beschönigend daher kam und die kaum Wörter hatte für Bilder von den Erfahrungen Schwarzer Frauen* und ihres kulturellen afrikanischen Erbes. Aber gerade dies war eine spannende Herausforderung. Sie bot die Chance, Audre Lordes Stimme einem Publikum zu vermitteln, an das sie wahrscheinlich ursprünglich nicht gedacht hatte. Ich erinnerte mich an ihre Worte über Differenz und die Bedeutung von Koalitionen. In Sigrid Markmann, einer ehemaligen Kollegin* an der Universität Osnabrück (wo ich 1990 eine Gastprofessur hatte), fand ich eine engagierte Co-Übersetzerin* und Bewunderin* der Werke Audre Lordes, mit der es möglich war, konstruktiv über Grenzen von Verschiedenheit hinweg zusammenzuarbeiten. Gemeinsam mit dem Orlanda Frauenverlag entschieden wir uns für eine zweisprachige Ausgabe, die einerseits die Stimme der Dichterin lebendig erhalten, anderseits sie für Les*erinnen erfahrbar machen sollte, die in einem
anderen sprachlichen und kulturellen Kontext aufgewachsen waren und lebten. Dieses Buch, für das Audre die Gedichte noch persönlich ausgewählt hatte, erschien 1994. Audre Lorde hat das Erscheinen nicht mehr erlebt. Unabhängig von der Verbreitung dieses Bandes war es für mich sehr positiv zu erfahren, dass Lehrende es an Gymnasien und in Universitäts-Seminaren benutzt haben, um ihre Lernenden mit der Kraft der Poesie und der Bedeutung von Differenz und Akzeptanz bekannt zu machen.

»Am besten unterrichten wir die Dinge, die wir für unser eigenes Überleben lernen müssen« ist über viele Jahre hinweg eine meiner Richtlinien als Lehrende geblieben. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist zuzuhören, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu respektieren, um gemeinsam agieren zu können. Audre Lorde, die dies nicht nur unterrichtete, sondern lebte, hatte darauf einen großen Einfluss. Sie hat viele Menschen in verschiedenen Teilen der Welt inspiriert und bestärkt. In Deutschland, wo die Leben Schwarzer Frauen* lange Zeit von Isolation und Marginalisierung geprägt waren, waren ihre Präsenz und ihre verschiedenen Initiativen für das Brechen des Schweigens besonders wichtig. Ihr positiver Einfluss basierte auf ihrer Offenheit, Ehrlichkeit, ihrem Selbstverständnis und ihrer Akzeptanz von Verschiedenheit, vor allem aber auf ihrer Vision von einer Zukunft ohne Unterdrückung und Diskriminierung. Wann immer Momente der Erinnerung an sie meine Gegenwart erreichen, stelle ich mir eine solche Zukunft vor, in der »der kreative Nutzen der Verschiedenheit« weiterhin dazu beiträgt, positive Veränderungen zu erreichen.

Marion Kraft

Marion Kraft. Foto: China Hopson