Verena Lueken: Anderswo
Für wex zum Lesen zu empfehlen?
Wenn du die Poesie einer Sprache liebst, die mit wenigen Ausdrücken Dinge so berührend ansprechen und auf den Punkt bringen kann. Wenn du dich mit Scham und Schuld als Erbe beschäftigst und wie sich das in das Verhalten deiner Eltern und dann auch in dein eigenes Sein einschreibt. Wenn du versinken und dann fließen willst durch die Schönheit einer Prosa, die dich mitnimmt und berührt.
Ich mag Literatur, wenn sie mich herausfordert. Wenn sie mir Worte gibt, für etwas, was ich höchstens diffus und undeutlich in mir gespürt habe. Wenn sie mir neue Perspektiven gibt auf ein Leben und eine Welt, die mir manchmal fremd und unerklärlich erscheint. Wenn sie mir andere nahebringt und wenn ich mir neu und anders begegnen kann im und durch das Lesen. Verena Luekens Roman vermag all dies in wunderbarer, berührender Weise.
Der Roman ist so viel und so viel mehr in vielerlei Hinsicht. Über das im Klappentext stark gemachte Thema des Suchens einer Verbindung zu dem seit Jahrzehnten toten Vater, über deren Relation es so kurz wie treffend heißt ’sie hatten einander verpasst‘ im Leben geht es auch um die eigenen Lebensentwürfe. Ganz zentral ist hier das Thema des eigenen cis-weiblichen Körperempfindens und Körperns der Protagonistin und wie dieses sehr früh schon geprägt worden ist – oder anders ausgedrückt: Wie das Zutrauen zu dem eigenen Körperempfinden früh und jäh unterbrochen wurde durch eine zurichtende Äußerung des Vaters und so eine nachhaltige, erst mit Jahrzehnten Abstand verstehbare Fremdheit dem eigenen Körper/n gegenüber zurückgelassen hat. Diese hat das Leben der Protagonistin des Romans nachhaltig und in mehrfacher Hinsicht geprägt. Welche Rolle spielt Körperlichkeit in einer Nahbeziehung, wenn es kein positives Fühlen zum eigenen Körper/n gibt? Dieses diffuse Nicht-Fühlen oder Nicht-Wohlfühlen im eigenen Körper/n wird hier den Roman durchziehend sehr eindrucksvoll ausformuliert und spiegelt sich sowohl in der verpassten Vater-Beziehung als auch der Nahbeziehung, die irgendwann ihre Gestalt wechselt.
Ich mag, wie die Protagonistin in und trotz allem ein eigenständiges Leben führt – sie ist Reisejournalistin und schreibt eher Hochglanzreiseberichte und spart das, was sie dort nicht unterbekommt, ihre sogenannten Outtakes, in einem Extra-Ordner auf, um daraus, irgendwann etwas zu machen: „die schmerzhaften, undruckbaren Geschichten, aus denen irgendwann etwas Neues werden würde, etwas Abseitiges, Bizarres. Eine runde Sache, in der die Welt wieder ganz wäre, unbeschnitten und bis zu den Rändern wahr.“ (177) Auch dieser Roman ist eine solche Sammlung, die sich in einem neuen Geschichten-Schreiben versucht und so die schmerzhaften Verpassungen bei sich selbst und im Kontakt mit anderen versucht zusammen zu bringen. Absolut empfehlenswerte Lektüre – wie auch schon der erste Roman von Verena Lueken ‚Alles zählt‘.
Und was noch?
Ich mag die Weise, wie dem Fehlen von Worten im Erzählen des Vaters Geschichten angedichtet werden von der Protagonistin, ohne den Anspruch auf Eindeutigkeit und Wahrheit damit zu verfolgen. Der empathische Versuch des Sich-Hineinversetzens in den Vater in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hat mir neue Perspektiven auf die verinnerlichte Schuld Privilegierter in Deutschland eröffnet. Das Ende des Romans hingegen ist mir zu weit hergeholt (wie übrigens bei dem Erstling ‚Alles zählt‘ auch): die Handlung in einen anderen Kontinent verlegt, die Zufälle zu groß und zu viel und damit auch die potentiell schwierigen Klischees und Stereotype, die darüber aufgemacht werden.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Verena Lueken (2018): Anderswo. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Link zum Roman auf der Homepage des Verlags Kiepenheuer & Witsch
Link zum Wikipedia-Eintrag von Verena Lueken
Copyright Coverfoto: Kiepenheuer & Witsch