Won-pyung Sohn: Mandel

Worum geht’s?

Das Buch ist die nachträgliche Ich-Erzählung eines Menschen von Kindheit an bis zum frühen Erwachsenenalter. Yunjae wächst bei Großmutter und Mutter auf. Er hat eine Diagnose, keine Gefühle empfinden zu können: Freude oder Trauer, Glück, Bestürzung, Mitgefühl. Ebenso kann er die Mimik und Aussagen anderer Menschen nicht deuten hin zu ihrem Gefühlszustand. Die Mutter versucht, ihm ein aus ihrer Sicht angemessenes Verhalten beizubringen. Er trainiert und übt ein, was Fragen und Verhaltensweisen anderer Menschen bedeuten könnten und was unverfängliche angemessene Antworten sein könnten.

Als Yunjae 12 Jahre ist, wird seine Großmutter Opfer eines Attentats und die Mutter liegt seitdem im Koma. Yunjae ist nun weitgehend auf sich selbst gestellt, unterstützt von seinem Nachbarn, der offenbar auch eine Freundschaft mit der Mutter gepflegt hatte. Yunjae erzählt von seinem Wahrnehmen von Welt und seinem Bestreben nach einem normalen Leben: Schulgang und Weiterführen des Antiquariats, das die Mutter betrieben hatte. Aufgrund seines Seins mit Gefühlen wird er in der Schule gemobbt und lebt ein weitgehend menschen-einsames Leben. Täglich besucht er seine Mutter im Krankenhaus.

Im Verlauf der weiteren Erzählung treten zwei Menschen in Yunjaes Leben, mit denen er unterschiedliche Kontakte pflegt. Diese Kontakte transformieren Yunjae.

Mehr schreibe ich hier nicht zu der Geschichte, die sich ab diesem Punkt weiter entfaltet.

Die Sprache ist schlicht und gerade in dieser Schlichtheit berührend. Die Erzählung übernimmt die Perspektive Yunjaes: das Erzählte ist beobachtend und von einem direkten Hören gekennzeichnet. Die wiedergegebenen Dialoge sind auf Seiten von Yunjae davon geprägt und entziehen sich einem Interpretieren. Das ist ungewöhnlich und vermittelt eine Klarheit beim Lesen und einen Frieden. Die Erzählung macht auf diese Weise deutlich, was es bedeuten könnte, einer anderen Person zu begegnen, ohne ihr mit vorgefassten Meinungen und Urteilen gegenüberzustehen und die Äußerungen der Person auch entsprechend zu bewerten.

Gleichzeitig damit macht das Buch auch deutlich, wie schwer es für andere Menschen sein kann, ein Gegenüber zu haben, welches nicht emotional berührbar ist. Dies kann abschreckend wie auch anziehend und erstrebenswert wirken – je nach eigener Verfasstheit und Geschichte, wie der Roman aufzeigt.

Was sonst noch?

Ein höchst ungewöhnliches Leseerlebnis. Welches in mir nachhallt und eine Ruhe hinterlässt. Das Buch eröffnet komplexe Fragen dazu, wie eine Gesellschaft mit Gefühlen umgeht, welche Gefühle wann und für wens in welcher Situation als normal und wünschenswert angesehen werden. Welche Menschen medizinisch diagnostiziert und auf diese Weise als ‚nicht-normal‘ gebrandmarkt wird. Was das mit den so Ausgestoßenen macht und welche Normen von Normalität auf diese Weise bestätigt werden.

Darüber hinaus ist dies auch ein Buch über Freund*innenschaften und dem Begegnen von Menschen ganz jenseits von der sonst allgegenwärtigen Norm von heteromantischen Liebesbeziehung. Auch in dieser Hinsicht also ist der Roman diskriminierungskritisch. Auch das ist schön, besonders, horizonterweiternd und berührend.

Eine klare Leseempfehlung!

[Rezension von Lann Hornscheidt]

Won-pyung Sohn: Mandel (2024). Berlin: Blumenbar.
Übersetzung aus dem Koreanischen von Sebastian Bring.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Blumenbar / Aufbau-Verlage