Yaa Gyasi: Transcendent Kingdom
Den ersten Roman von Yaa Gyasi – Homegoing – habe ich geliebt – und denke noch heute viel an ihn – an die Weise wie die Verbindung und Verstrickung von Leben über viele Generationen hinweg hier so deutlich aufgezeigt wird – die Rolle, die Kolonialismus und Versklavung im Leben von Menschen und ihren Nachkommen über mehrere hundert Jahre spielt, die Lebensmöglichkeiten, die dadurch gewaltvoll vorgegeben sind und die Lebensentscheidungen, die dadurch geprägt sind, ob sie es bewusst wissen oder nicht. ‚Homegoing‘ ist in vieler Hinsicht ein grandioser Roman, ein Roman, den ich immer wieder zu lesen empfehle, um zu verstehen, wie tiefgreifend in Personen, Raum und Zeit Gewalt wirkt und das Leben, das dann möglich ist, bestimmt. Und das ist nur einer von ganz vielen wichtigen Aspekten von ‚Homegoing‘.
Vor diesem Hintergrund, war ich sehr gespannt auf den neuen Roman von Yaa Gyasi – gespannt und auch ein wenig ängstlich, wie es geht einen zweiten Roman zu schreiben nach diesem furiosen, tiefen und so wichtigen ersten Roman.
‚Transcendent Kingdom‘ ist im Gegensatz zu ‚Homegoing‘ ausschließlich in der Jetzt-Zeit angesiedelt mit kurzen Ausflügen in die Geschichte einer Familie – Mutter und zwei Kinder, alles aber weitgehend innerhalb dieses Gefüges erzählt. Erzählerische Stimme ist eins der beiden Kinder, Gifty, die als erfolgreiche Neurowissenchaftlerin in einem Labor mit Mäuseexperimenten die Gehirnstrukturen und -mechanismen von Suchtverhalten erforscht. Gifty führt ein eher menschenarmes Leben, das ganz auf diese Arbeit fokussiert ist. Sie bekommt eines Tages Besuch von der Mutter, die komplett antriebsarm, von dem Pastor ihrer Gemeinde in Alabama Gifty als Besuch quasi aufgedrängt wird in der Hoffnung, dass sich so der Zustand der Mutter verändern würde. Das ist mehr oder weniger die Ausgangssituation – die Mutter ist da in der kleinen Wohnung und liegt in Giftys Bett tagein und tagaus, Gifty arbeitet im Labor mit den Mäuseexperimenten, und die Kommunikation zwischen den beiden ist mehr inexistent denn real.
Ausgehend von diesem Setting erzählt Gifty in Rückblenden, die häufig durch jüngere Erinnerungen ausgelöst sind, die Geschichte von sich, dem Bruder, den Eltern – zunächst dem Umzug in die USA von Mutter und älterem Bruder, das Nachkommen des Vaters und Giftys Geburt, das Verschwinden des Vaters, weil er frustriert von den Nicht-Möglichkeiten und Erniedrigungen in den USA zurückgezogen ist nach Ghana und seine Versprechen am Telefon, bald wiederzukommen irgendwann verwässern bis sie ganz ausbleiben. Die Mutter arbeitet hart, der Bruder wird irgendwann drogenabhängig und Gifty versucht möglichst unauffällig allen Normen zu genügen, ohne Raum und Platz einzunehmen in diesem sozialen Gefüge. Der von der Mutter und von Gifty über alles geliebte Bruder stirbt Anfang 20 an einer Überdosis Heroin nach einer längeren Zeit der Sucht.
Gifty sucht seitdem nach Erklärungen. Warum das Leben so ist. Wie Sucht funktioniert. Warum der Bruder sterben musste. Und ossizilliert dabei zwischen Neurowissenschaften, also einem möglichst naturwissenschaftlichen Erklärungsansatz für all dies, und Gottglauben, ein Erbe mütterlicherseits, die tief religiös Teil einer christlichen Gemeinde in Alabama ist und dies an Gifty tagtäglich weitergegeben hat. Auch in diesem Punkt hat Gifty als Kind versucht die Erwartungen der Mutter bestmöglich zu erfüllen. So ist das Buch auch von früheren Tagebucheinträgen von Gifty durchzogen, die an Gott adressiert sind.
Vor diesem Setting stellt der Roman viele große wichtige Fragen dazu, wie Liebe funktioniert und was Menschen dazu bringt, den einen oder den anderen Weg einzuschlagen – und welche Erklärungen unterschiedliche Glaubenssysteme wie Religionen und Naturwissenschaften dafür bieten.
Es geht bei alldem auch um internalisierte Diskriminierung, um die kulturellen Einlesungen und Herstellungen von Ver_Rückt-Werden und um die massiven Folgen von Kolonialismus. Der Roman ist sehr eingängig geschrieben und von der ersten Seite an ein leicht zu lesendes Leseerlebnis. Die Geschichte ist spannend aufgebaut und fesselnd erzählt.
Was sonst noch?
Der Roman ist also ganz anders als ‚Homegoing‘ – und auf jeden Fall auch sehr lesenswert. Es gibt viele unendlich schöne und wichtige Zitate, die nach dem Lesen des Romans sehr gut diskutierbar wären – zu Glauben und Liebe, zu den Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier, zu der Möglichkeit sich miteinander zu verbinden, um nur einige zu nennen – und das Lesen hinterlässt etwas wie Wärme am Ende, was nach einem Roman, der von viel Kälte durchzogen ist, schön ist und den Weg der Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin sehr gut – und hoffnungsvoll – aufzeigt.
[Rezension von Lann Hornscheidt]
Yaa Gyasi (2020): Transcendent Kingdom. London: Penguin Books UK.
Link zum Roman auf der Homepage des Verlags
Link zum Wikipedia-Eintrag von Yaa Gyasi
Copyright Coverfoto: Penguin Books UK