Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Worum geht’s?

Julia hat lange als Krankenschwester in der Stadt gearbeitet – gewissenhaft, unaufgeregt. Julia war froh aus dem Dorf weggekommen zu sein, es geschafft zu haben, dem Dorf zu entrinnen. Ein Fehler aus Unachtsamkeit im Beruf katapultiert sie zu Beginn des Romans aus dem Krankenhaus und ihrem routinierten Stadtleben. Denn gleichzeitig mit diesem Fehlverhalten verliert sie nicht nur die Anstellung, sondern hat nun auch Asthma in einem Ausmaß, mit dem sie gar nicht mehr als Krankenschwester arbeiten könnte.

Sie flieht. Zurück in das Dorf, in das Haus der Eltern, in dem der Vater alleine lebt, nachdem die Mutter vor ein paar Wochen ausgezogen ist nach Italien, mit einer neuen Liebe. Der Vater sieht in Julia den notwendigen Pflege-, Kümmer-, Koch- und Putzersatz für seine Frau – Julia findet sich nur schwer in diese Rolle, ist sie doch eigentlich gekommen, weil sie das Gefühl hatte Hilfe zu brauchen. Auch fällt es ihr schwer, wieder in dem alten Dorf mit seinen alten Geschichten und Traditionen zu sein.

Zufällig lernt sie Oskar kennen, der in der Reha-Klinik dort sich von einem Herzinfarkt erholt. Er ist, im Gegensatz zu Julia, froh, den Infarkt als kleine Warnung zu verstehen aus seinem bisherigen Lebenstrott in derselben Stadt, aus der auch Julia kommt, aufgeben zu können. Er begeistert sich für alles und vor allem für das Dorf.

Die beiden beginnen einen körperlich näheren Kontakt, ohne dass sie unbedingt auf einer nachhaltigen Gesprächsebene miteinander landen. Für beide stellt sich die Frage, wie das Leben weitergeht – dort oder woanders? Zusammen oder?

Erzählt ist die Geschichte aus Sicht von Julia – sehr empathisch und gleichzeitig komplett unaufgeregt. Wie auch schon in dem Roman Ich an meiner Seite ist auch hier die Rede von eher fiktionalen Randexistenzen, die sonst wenig Beachtung bekommen in der Literatur. Diese entfalten dabei aber gleichzeitig grundmenschliche Fragen – wie die titelgebende: Wovon wir leben.

Neben diesen Hauptfiguren gibt es noch eine Reihe weiterer Figuren, die die Fragen ‚wovon wir leben‘ immer noch mal neu und anders beantwortet und auf diese Weise unterschiedliche Lebenskonzepte und -entscheidungen nebeneinander stellt: die Mutter, David, der behinderte Bruder in einem Pflegeheim, Bea, die alte Freundin und jetzt erfolgreiche Architektin, die im Ort geblieben ist.

Was sonst noch?

Atmen – mehr ausatmen als einatmen ist ein Motto, das den Roman durchzieht – und viel von Julias Leben deutlich macht.

Es ist sehr beeindruckend und imponierend geschrieben, wie in den inneren Monologen von Julia wie auch in ihren Dialogen mit dem Vater und anderen deutlich wird, wie tiefgreifend patriarchale Strukturen das Alltagsleben prägen – für die einen komplett unsichtbar (Vater) und selbstverständlich, für die anderen (Julia) eine Anstrengung, ein Fremdsein im eigenen Leben. Das ist klar und konkret an einzelnen Situationen hervorragend auserzählt in dem Roman.

Auch das Ende, von dem hier nichts verraten wird, gibt noch mal einiges dazu zu denken.

Große Leseempfehlung!

Es macht sehr viel Spaß, die Romane von Birgit Birnbacher zu lesen. Sie setzen so komplett andere thematische Schwerpunkte als die sonstige Literatur. Das empfinde ich als sehr wohltuend. Es geht nicht darum, ob Julia und Oskar die große Liebe sind – es geht um das Empfinden der einzelnen, ihre Haltungen, ihre Lebensentscheidungen. Und die Strukturen, die da ein Wort mitzureden haben. Dies wird in einer so schönen, stillen, poetischen Sprache erzählt, dass das Lesen ein großer Genuss ist – literarisch und inhaltlich.

[Rezension von Lann Hornscheidt]

Birgit Birnbacher. Wovon wir leben (2023). Wien: Zsolnay.

Link zum Roman auf der Homepage des Verlags

Copyright Coverfoto: Zsolnay/Hanser